„Von großer Feierlichkeit hab' ick nüscht jemerkt“

■ „Nehmen Sie die Wahl an?“ Während in der ersten Reihe des Bundestags der neue Kanzler sein Jawort gibt, wird in den hinteren Bänken geschnieft – und über den Zweitfön nachgedacht

Bonn (taz) – Es ist der Tag der Taschentücher. Und der Feinstrumpfhosen. Staatstragendes Schwarz haben sämtliche Mitglieder der bündnisgrünen Fraktionsspitze gewählt, als sie am Morgen vor dem Kleiderschrank standen. Andrea Fischer hat sich für viel freies Bein entschieden, Jürgen Trittin für den etwas leichteren Schuh. Mit dem stürmt er schlingernd vorwärts, als das Ergebnis bekanntgegeben wird. Sieben Stimmen über den Durst hat Schröder bei der Kanzlerwahl im Bundestag. Da reißt es sogar einen Joschka vom Stuhl. Vorn läßt Schröder sich schütteln und klopfen. In den hinteren Bänken wird geschnieft.

„Mir sind die Tränen gekommen“, bekennt Gernot Erler. 16 Jahre lang hat der Genosse „die harte Oppositionsbank gedrückt“, jetzt ist er „irgendwie schon gerührt“. Jede Menge Taschentücher braucht auch Ex-Familienministerin Claudia Nolte. „Ich habe eine satte Erkältung, das ist eigentlich das einzige, was mich beschäftigt“, kommentiert sie spitz die große Stunde und hastet aus dem Saal.

Nein, die angemessene Würde will sich nicht recht einstellen bei den Darstellern des historischen Wechselspektakels. „Lassen Sie mich doch durch, das ist ja zum Kotzen“, schreit ein PDS-Abgeordneter den Wall von Kameras und Mikrofonen im Foyer an. „Von großer Feierlichkeit hab' ick nüscht jemerkt“, meint achselzuckend Petra Pau. Steile Schuhe hat die PDS-Frau sich für ihren heutigen Auftritt im Bundestag ausgesucht, die Garderobe stehe, versichert sie. Gedanken macht die Abgeordnete mit dem roten Bürstenschnitt sich eher darüber, ob sie sich „einen zweiten Fön zulegen“ soll. Sorgen auch über die Haushaltskasse. „Sehr eng und zweckmäßig“ sei ihr neues Zimmer in Bonn, „aber kostet jenauso viel wie meine Dreiraumwohnung in Berlin“.

Enttäuscht vom hohen Haus ist dagegen die bündnisgrüne Ex-Europa-Abgeordnete Eva Quistorp. „Die schrumpfen plötzlich so auf Normalmaß zusammen“, sagt sie und zeigt von der Zuschauertribüne hinunter aufs Parkett, „sogar der Hombach sieht von hier aus nicht mehr so fett aus.“ Neben ihr hat sich Martin „Bericht aus Bonn“ Schulze im Sessel ausgebreitet. Ihm sei, läßt der begnadete Freitagabend-Langweiler der ARD wissen, „demokratisch zumute“.

Während die einen die Routine raushängen, sind die anderen auf „Freude“ gebucht. Juso-Chefin Andrea Nahles läuft im Seemannsgang durchs Plenum und pfeift dabei. Dr. Kohl schenkt seinem Widersacher ein boshaftes Lächeln, bevor der die rote Schnupfennase in seinem Taschentuch versenkt. Und auch Ingrid Matthäus-Maier läßt keinen Zweifel aufkommen, daß es ihr prima geht. Kein einziges Pöstchen ist für sie rausgesprungen. „Ein ganz großer Tag“, versichert sie Jürgen Trittin, als sie ihm gratuliert.

Der Umweltminister nimmt die Glückwünsche mit gefriergetrockneter Miene entgegen. „Ich kenn' das doch schon alles“, sagt er gelangweilt, als er zum fünften Mal gefragt wird, wie er sich fühlt. „Ob ich auf die niedersächsische Verfassung schwöre oder aufs Grundgesetz“, schiebt er nach, „ist doch gleich.“ Viel zu müde, um aufgeregt zu sein, ist Kerstin Müller. Viel zu verbiestert dagegen Roger Willemsen. „Es wird“, mahnt er, „viel zuviel psychologisiert und viel zuwenig Politik gemacht.“

Der Mann hat recht. „Der Regierung Beine machen“ will ab sofort die ehemalige CDU-Ministerin Hannelore Rönsch. Auch wenn ihr heute „schon ein Stückchen schwer ums Herz“ ist. Horst Seehofer tut sich da leichter. Ohne Bodyguard und zu Fuß ist der Ex-Gesundheitsminister unterwegs zu seinem neuen Büro. Er sei froh, „die ganze Verantwortung los zu sein“. Auch wenn er das Spektakel „natürlich parteipolitisch bedrückend“ finde. Als müsse er sich zwingen, ein bißchen betroffen zu wirken. Constanze v. Bullion