: In Lateinamerika gibt es viele Pinochet-Probleme
■ Die Unantastbarkeit der Diktatoren gehörte in vielen Ländern zum Kuhhandel, der die Überwindung von Militärherrschaft möglich machte. Nun bringt Pinochet alles durcheinander
Washington (taz) – Der Versuch, im Ausland einen Prozeß gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet zuwege zu bringen, bringt den Kompromiß durcheinander, auf den sich Chile bei der Übergabe der Macht an eine zivile Regierung eingelassen hatte – wie die meisten anderen lateinamerikanischen Länder auch. Der Kuhhandel, den Übergang zu zivilen Regierungen nur unter der Bedingung der Amnestie für die begangenen Menschenrechtsverletzungen zuzulassen, gehört in fast ganz Lateinamerika zur Standardausstattung der neuen Demokratien. Der Anspruch der Opfer nach Sühne der Verbrechen und Bestrafung der Verantwortlichen hat hinter dem politischen Sicherheitsbedürfnis der zivilen Regierungen gegenüber ihren eigenen Militärs zurückstehen müssen.
In Chiles Nachbarland Argentinien, wo von 1976 bis 1983 eine der blutigsten Diktaturen der Region herrschte – 30.000 Menschen „verschwanden“ in diesen Jahren –, sitzt inzwischen keiner der ehemaligen Schlächter mehr in Haft. 1984 hatte eine Untersuchungskommission in einem Bericht unter dem Titel „Nie wieder!“ detailliert Folter und Mord der Diktatur beschrieben. Den obersten militärischen Anführern wurde der Prozeß gemacht – was auch nur ging, weil die argentinischen Militärs nach dem verlorenen Falklandkrieg komplett diskreditiert waren. Aber noch in den 80er Jahren sah sich die neue zivile Regierung mit einer ganzen Reihe von Militärrevolten konfrontiert. Weitere Prozesse wurden alsbald durch Amnestie- und Schlußstrichgesetz ausgeschlossen und die wenigen Verurteilten nur wenige Jahre später von Präsident Carlos Menem auf freien Fuß gesetzt.
Andere Amnestiegesetze sind jüngeren Datums: In Guatemala gab die Armee offiziell 1985 die Macht an einen zivilen Präsidenten zurück – Vinicio Cerezo aber war nie in der Lage, unabhängig vom Willen des Militärs zu regieren. Die letzten zwei der insgesamt 14 zwischen 1982 und 1988 erlassenen Amnestiedekrete für die Verbrechen der guatemaltekischen Armee stammen aus seiner Amtszeit. Auch die Wahrheitskommission, die nach dem Friedensschluß mit der Guerilla seit Juli 1997 an der Aufklärung der Massaker arbeitet, wird daran wenig ändern können. Ähnlich wie in Südafrika ist auch in Guatemala zunächst an Wahrheitsfindung gedacht, nicht an Bestrafung. Mit der Ermordung des in Fragen der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen engagierten Erzbischofs Juan Gerardi haben interessierte Kreise in Guatemala aber im vergangenen April deutlich gemacht, wo sie die Grenzen ziehen.
Amnestiegesetze statt Strafverfolgung
Im Nachbarland El Salvador beendete die dortige Wahrheitskommission ihre Arbeit 1993 mit einem Bericht, der den Offizieren des Heeres die Verantwortung für 15.777 Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlung, 2.308 Verschwundene, 1.650 Fälle von Folter und 11.175 Angriffe gegen wehrlose Zivilisten zur Last legte. Das Amnestiegesetz folgte unmittelbar. Auch in Nicaragua sicherte ein Amnestiegesetz, daß nach dem Ende des Krieges der US-finanzierten Contras gegen die sandinistische Regierung niemand auf beiden Seiten für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden konnte.
In Brasilien sicherten sich die Militärs ihre Straffreiheit schon 1979 durch ein Amnestiegesetz, bevor sie 1985 die Macht abgaben, in Uruguay stimmten 1989 bei einer Volksabstimmung 57 Prozent der Bevölkerung für eine Amnestie der Militärs, die 1985 abgetreten waren. In Bolivien wurde der ehemalige Diktator Hugo Banzer, bei dessen Putsch 1971 mindestens 126 Menschen ums Leben kamen und der 1973 beim Massaker von Cochabamba 100 Bauern umbringen ließ, im vergangenen Jahr zum Präsidenten gewählt. Paraguays Diktator Alfredo Stroessner, verantwortlich für mindestens 1.500 Morde, konnte bei seinem Sturz 1989 unbehelligt das Land verlassen. In Haiti leben die Hauptverantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen des Militärregimes, das Präsident Aristide gestürzt hatte und 1994 unter dem Druck der USA abtreten mußte, unbehelligt in den USA.
Eine Verurteilung von außen, wie sie jetzt im Fall Pinochet angestrebt wird – und auch in anderen Fällen denkbar wäre –, wäre zwar ohne Zweifel eine Genugtuung für die Opfer, läuft aber Gefahr, statt einer Dynamik der Vergangenheitsbewältigung eine nationalistische Solidarisierung auszulösen.
So ist das Problem praktisch nicht lösbar: Zu einer juristischen Bewältigung der Diktaturen aus eigener Kraft sind die Länder nicht in der Lage – Unterstützung von außen kommt viel zu spät. „Ich habe eine ganze Bibliothek voller Verurteilungen der UNO“, sagte Pinochet lächelnd 1986. Äußerer Druck hätte am ehesten wirksam sein können, als die Diktatoren Lateinamerikas sich im Kampf gegen den Kommunismus auf der richtigen Seite der Barrikade wähnten. Bernd Pickert
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