: Rinderknochen bald im Angebot
Die britische Regierung rechnet damit, daß die Europäische Kommission Vorsichtsmaßnahmen gegen den Verkauf von BSE-verseuchtem Fleisch wieder aufhebt ■ Von Ralf Sotscheck
Ihr Weihnachtsbraten wird für manche Briten wohl ein zweifelhafter Genuß werden. Die Regierung in London rechnet damit, daß die Europäische Kommission das Verkaufsverbot für nicht entbeintes britisches Rindfleisch noch vor dem Christfest aufhebt. Die Lockerung der Vorsichtsmaßnahmen gegen den Rinderwahnsinn BSE soll jedoch nur für Großbritannien gelten; exportiert werden darf das Fleisch am Knochen auch weiterhin nicht.
Der damalige Labour-Landwirtschaftsminister Jack Cunningham hatte das Verkaufsverbot im vergangenen Dezember erlassen. Sein Nachfolger Nick Brown behauptet, es sei nun völlig ausgeschlossen, daß Fleisch von Rindern, die mit verseuchten Fleischabfällen gefüttert und dadurch infiziert worden sind, in den Handel gelangen könne. Tatsächlich geht die Zahl der an BSE erkrankten Tiere langsam zurück: Im September diesen Jahres wurden noch 321 Fälle von Rinderwahnsinn in Großbritannien registriert, vor einem Jahr waren es 450 gewesen.
Die Beteuerungen von Politikern, Rindfleisch sei ungefährlich, stoßen auf breite Skepsis. Der Ausschuß unter Vorsitz von Lordrichter Phillips hat seit März mehr als 150 Zeugen vernommen, darunter auch Angehörige der 29 Menschen, die bisher an der neuen Variante der Creutzfeldt-Jakob- Krankheit (nv CJK) gestorben sind. Ursache für die Erkrankung, so vermuten die meisten Wissenschaftler, war der Genuß von BSE- verseuchtem Rindfleisch.
Bei der Untersuchung kam heraus, daß die Politiker im Interesse der Fleischindustrie immer wieder abgewiegelt hatten. Kenneth Calman, der Chefmediziner der britischen Regierung, und sein Vorgänger Donald Acheson hatten bis 1995 beteuert, Rindfleisch sei „sicher“. Vor dem Ausschuß sagte Calman jedoch, damit habe man die Öffentlichkeit unbewußt in die Irre geführt. Er machte dafür vor allem das Landwirtschaftsministerium verantwortlich.
Das Ministerium habe es versäumt, die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen zum Rinderwahnsinn zu überprüfen. Erst im Oktober 1995 habe der Chefveterinär Keith Meldrum ihm gegenüber eingeräumt, daß bei Routineinspektionen von Schlachthäusern in vier Fällen das Rückenmark entgegen den Vorschriften nicht entfernt worden war, sagte Calman. Auch das Fütterungsverbot von Kühen mit Fleischabfällen sei in vielen Fällen umgangen worden.
Obwohl das Landwirtschaftsministerium im März 1996 Bescheid wußte, daß die Krankheit auf Menschen übertragen worden sei, spielten die Beamten die Sache weiterhin herunter. Meldrum hatte auch gegenüber der taz mehrfach bestritten, daß eine Ansteckungsgefahr für Menschen bestehe. Freilich hat das Ministerium auch das Gesundheitsressort hinters Licht geführt. Das geht aus bisher geheimgehaltenen Regierungspapieren hervor. „Es ist ein echter Grund zur Besorgnis, daß sie auf wichtigen Informationen sitzen könnten“, schrieb Hilary Pickles vom Gesundheitsminsiterium in einem internen Papier 1990, „aber wir können aufgrund vergangener Erfahrungen keine Gewißheit haben, ob sie uns davon erzählen.“
Wie viele Menschen mit nv CJK infiziert sind, ist unbekannt, da die Inkubationszeit bis zu 30 Jahren beträgt. Die 29 bisherigen Opfer gehörten alle derselben genetischen Gruppe an, doch ist nicht auszuschließen, daß lediglich ihre Inkubationszeit kürzer ist. Das Durchschnittsalter der Opfer liegt bei 29 Jahren, während es bei klassischer CJK 66 Jahre beträgt. Der Zeitraum zwischen den ersten Symptomen und dem Tod des Patienten ist bei der neuen Variante dreimal länger, nämlich durchschnittlich 14 Monate.
Der Mikrobiologe Professor Richard Lacey hatte bereits 1990 gewarnt, daß „wir eine ganze Generation von Menschen verlieren“ könnten. Bisher gibt es keinen zuverlässigen Test. Harash Narang, Mikrobiologe aus Newcastle, der vor acht Jahren vor den Gefahren gewarnt hatte und dafür vom Dienst im Gesundheitsamt suspendiert wurde, arbeitet inzwischen wieder an seinem Urintest, den Meldrum damals als Scharlatanerie abgetan hatte. Jetzt forscht Narang im staatlichen Auftrag. Das CJK-Zentrum in Edinburgh versorgt ihn mit Urinproben von menschlichen Verdachtsfällen. Er könne mit einer Probe pro Woche rechnen, hieß es. „Ich war entsetzt, als ich das hörte“, sagte Narang zur taz. „Das würde bedeuten, daß die Verbreitung der Krankheit viel schlimmer ist als angenommen. Selbst wenn sich nur die Hälfte als positiv erweist, würde das die Eskalation der Fälle wie bei Rindern widerspiegeln.“
Die Regierung hat vergangene Woche Gelder für ein internationales CJK-Forschungszentrum in London bewilligt. Es soll einen Test finden und die Entwicklung der Krankheit beobachten, um möglichst früh zu erkennen, ob sie epidemische Ausmaße annimmt. Dazu hat man Tausende von Mandeln eingesammelt, die Patienten bei Routineoperationen entfernt worden sind. Wenn der Erreger nur in einem Promille der untersuchten Fälle gefunden wird, könnte das auf 50.000 infizierte Menschen landesweit hindeuten, sagte John Collinge, der das Forschungszentrum gemeinsam mit dem Schweizer Experten Charles Weissmann leiten wird.
Ray Bradley vom BSE-Beratungsausschuß der Regierung hatte in einem Geheimpapier 1988 gewarnt: „Es findet zur Zeit ein natürliches Experiment mit der Bevölkerung statt, und es ist an den Epidemiologen, Daten zu sammeln und eine Hypothese aufzustellen.“ Das gilt auch heute noch.
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