: Die große Transformation
Vor allen anderen Berliner Baustellen durch eine besondere Seinsweise ausgezeichnet: das Stadtschloß und das Holocaust-Mahnmal. Oder wie dem Phantasma der Hauptstadt einer kommenden „Berliner Republik“ symbolisch vorgearbeitet wird ■ Von Michael Rutschky
Mittels zahlloser Baustellen arbeitet sich Berlin seit Jahren in eine große Transformation hinein, aus der es dann als Hauptstadt der Berliner Republik hervorgehen soll, wobei „Berliner Republik“ ein Phantasma bezeichnet, das nach Belieben mit Wunsch- oder Schreckensbildern ausgemalt werden darf.
Unter den zahllosen Baustellen der noch inexistenten Hauptstadt finden sich zwei, die eine besondere Seinsweise vor allen anderen auszeichnet. Sie sind nicht ganz dasselbe wie – meinetwegen – das neue Regierungsviertel um den Reichstag oder der Lehrter Bahnhof. An ihnen scheint sich das Phantasma der Berliner Republik in besonderer Weise zu verdichten.
Das kommt daher, daß sich an diesen beiden Baustellen der innerstädtische, aber auch der gesamtdeutsche Diskurs – manchmal empfängt man sogar Beiträge aus dem Ausland – in besonderer Fülle und Häufigkeit versammelt. Dies sind die am heftigsten beredeten Baustellen der Hauptstadt; verglichen mit ihnen verlief der Neubau am Potsdamer Platz in relativer Schweigsamkeit.
Dabei ist keine der beiden Baustellen schon richtig in Betrieb. Wer sie aufsucht, muß sich mittels eigener Imaginationsanstrengungen von ihrer besonderen Seinsweise überzeugen. Das dichte Reden betrifft erst die Pläne und Projekte, was hier zu errichten sei – noch ist nichts entschieden, deshalb liegen die Stätten brach.
Der Schloßplatz – unter dem Sozialismus war er Marx und Engels geweiht – zeichnet sich inzwischen dadurch aus, daß stellenweise die Asphaltierung geöffnet und Schloßfundamente für die Besichtigung freigelegt wurden (neulich gab's in den Zeitungen auch ein paar Fotos aus den unterirdischen Gewölben). Im Hintergrund verrottet majestätisch der Palast der Republik; mannigfach umspinnen die Diskurse auch ihn – und man findet unter den Bürgern aus den Ostteilen der Stadt jede Menge, die den leeren und verrottenden Palast zum Nationaldenkmal erklären: Er demonstriere symbolisch, wie der Westen mit dem Osten verfahre.
Vor allem geht es bei dem Diskurs, der diese marode Stätte unsichtbar umspielt, natürlich um die Frage, ob hier das Stadtschloß wiederzuerrichten sei, eine Debatte von einiger Heftigkeit – wie du gleich bemerkst, wenn du dich auch nur zufällig daran beteiligst, an dir selbst bemerkst, der plötzlich entschieden der Meinung ist, das Stadtschloß sei unbedingt zu rekonstruieren. Oder aber auf gar keinen Fall. Fast möchtest du befürchten, in die Auseinandersetzungen um die Rechtschreibreform hineingeraten zu sein.
Gegenüber dem öden Durcheinander auf dem Schloßplatz: Tritt man aus dem Alten Museum heraus, sieht man überhaupt nur ein Loch im Stadtbild, das weiter hinten vom ehemaligen Staatsratsgebäude notdürftig aufgefüllt wird – demgegenüber beeindruckt die Baustelle für das Holocaust- Mahnmal an der Friedrich-Ebert-, Ecke Behrenstraße durch eine gewisse Wohlgestalt.
Eine leere Sandfläche; und der Zaun, der sie einschließt, funktioniert schon als Rahmen, der alles Sichtbare in ein Zeichen verwandelt, also das Gelände in Richtung des Hochsymbolischen hinaufmoduliert. Wobei die leere, unbetretbare Sandfläche bereits Assoziationsfäden zu japanischen Zen- Gärten und den Werken der Land- art aus den Siebzigern anlegt – rechts tun sich Kellerlöcher auf, von denen ich gelesen zu haben meine, hier habe die Dienstvilla von Dr. Joseph Goebbels gestanden.
Besonders gesteigert wird der gerahmte und sozusagen halbsymbolische Ort dadurch, daß man, um ihn richtig vor Augen zu haben, ein Gerüst erklimmen muß, von dem man die Einzäunung überschauen kann, ein Gerüst, wie es einst an verschiedenen Stellen Westberlins die Mauer überragte, so daß die Einheimischen ihren Gästen aus Westdeutschland den Todesstreifen und flüchtige Blicke nach Ostberlin hinein bieten konnten: Bereits unbebaut zeichnet sich also der Bauplatz für das Holocaust- Mahnmal durch großen ikonographischen Reichtum aus. Während der Schloßplatz (Marx-Engels- Platz) samt freigelegten Schloßfundamenten und Palast der Republik sich noch durch Ungestalt auszeichnet, ein ungewolltes Informel des Stadtbildes.
Trotzdem möchte ich behaupten, daß die außerordentlichen Schwierigkeiten, ein zentrales Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu bauen, auch der Neugestaltung des Platzes entgegenstehen, den einst das Berliner Stadtschloß einnahm und der jetzt teilweise vom Palast der Republik besetzt wird (der in den Erinnerungen und Erzählungen vieler Ostberliner so große Bedeutung einnimmt).
Die zentrale Schwierigkeit ist, daß in beiden Fällen ein Symbol errichtet werden soll, ein Zentralsymbol, zu dem die Berliner Republik gravitieren möchte. Darauf laufen alle Diskurse hinaus, deshalb werden hier die Diskurse so dicht.
Beim Stadtschloß geht es um „Die Mitte“, die symbolisiert werden soll, die Mitte der Hauptstadt, die Mitte der Republik. Genaueres fehlt noch, vor allem darf die Mitte nicht leer bleiben. Dagegen ist das Holocaust-Mahnmal mit positiver Bedeutung überladen: Es soll verbindlich darstellen, wie sich die Hauptstadt, wie sich die Berliner Republik zu der maßlosen Schande stellt, die das Dritte Reich über Deutschland und seine Geschichte gebracht hat durch die organisierte, systematisch-industrielle Ermordung der Juden. Das Holocaust-Mahnmal soll als Kunstwerk eine Art Nationaldenkmal werden – nur stellt es dem Gedenken der Nation ebenso wie der Kunst eine Aufgabe, die durch Unlösbarkeit definiert ist. Auch hier geht es eigentlich um „Die Mitte“ der Berliner Republik: Doch müßte sie als artistisches Äquivalent eines Schwarzen Loches gestaltet sein, aber Schwarze Löcher zeichnen sich ja dadurch aus, daß sie alle Gestaltungen verschlingen.
Demgegenüber zeichnet sich das Symbol, als welches das Stadtschloß wiedererrichtet werden möchte, durch eine gewisse trotzige Unbestimmtheit aus. Es soll ja – und das als Symbol für „Die Mitte“ – unabhängig von allen konkreten Nutzungsplänen, was darin unterzubringen sei, gebaut werden, seinerseits als Denkmal. Denn dort ziehen weder der Bundespräsident noch der Bundeskanzler ein, ebensowenig das Parlament oder die klassischen Ministerien. Es geht ausschließlich um ein architektonisches Symbol – für „Die Mitte“ –, von dem vollkommen unklar bleiben muß, was es eigentlich symbolisieren soll, weil die sozialen Lebensvollzüge unbekannt sind, die es versammelt. Gleichzeitig ist aber vollkommen klar, daß es um eine solche Versammlung durch „Die Mitte“ geht. Bloß folgen Lebensvollzüge ihren eigenen Regeln und verwenden Architektur als Material.
Wie geht es nun weiter? – Man könnte die Rechts-links-Unterscheidung applizieren und sagen: Der Linken wird als „Die Mitte“ das Holocaust-Mahnmal zugewiesen, das negative Nationaldenkmal, wie auch immer es ausschaut. In jedem Fall verkörpert es den kategorischen Imperativ, den Theodor W. Adorno der Bundesrepublik vorgeschrieben hat, nie wieder darf Auschwitz sein – auch wenn dieses Nationaldenkmal eine peinliche Unmöglichkeit monumental darstellen wird. – Alles nicht so schlimm, denn auch das Nationaldenkmal der Rechten, das als Kulisse für irgendwas wiedererrichtete Stadtschloß, imponiert durch seine Sinn- und Geschmacklosigkeit. Man kann prognostizieren, die beiden Nationaldenkmäler werden in ihrer Wirkung und Überzeugungskraft einander vernichten. Überhaupt erzeugt hier die Rechts-links-Unterscheidung nur die flauen Argumente von Lobbyisten.
Eine gewisse Hoffnung erweckt der Vorschlag von Michael Naumann, des neuen Generalsekretärs für Genauigkeit und Seele, das Holocaust-Mahnmal von dem Auftrag, ein repräsentatives Kunstwerk zu sein, zu entlasten; das Kunstwerk herunterzumodulieren in Richtung Dokumentationszentrum, das unmöglich im ästhetischen Sinne das Nationaldenkmal vorstellen kann. Wie diese Idee sich sogleich mit Steven Spielberg, also Hollywood, verquickte – dessen TV-Interview-Sammlung hier Verwendung finden könnte –, kann ich schlecht mit dem gewünschten Aplomb tadeln. Die deutsche Sprache hat das Wort „Holocaust“ aus einer US-Fernsehserie übernommen. Die kulturelle Erinnerung geht seltsame Wege, um zu prägnanten Vorstellungen zu gelangen.
Aber vielleicht eröffnet sich noch ein anderer Ausweg. Die Ära Kohl zeichnete sich, wie jetzt nach ihrem Ende gleich deutlich wird, durch ein eigenes Leitmedium aus, das der Kanzler mit persönlichem Engagement zu etablieren half: „Die Geschichte“.
Verwandelte das Ungeschick der frühen Jahre den Besuch des Protagonisten auf dem Bitburger Friedhof – wo der amerikanische Präsident auch SS-Männer ehren sollte – in eine peinliche Farce, so überschwemmte „Die Geschichte“ nach der Wiedervereinigung bekanntlich alles, den Präsidenten Mitterrand und Ernst Jünger, das Stadtschloß und das Holocaust-Mahnmal, Deutschland und Europa und Rußland und die USA. Die Geschichte trat über die Ufer, oder wir traten wieder in sie ein oder was auch immer: „Die Geschichte“ war immer schon zur Stelle.
Jeder Boden verwandelte sich in einen historischen, der unmittelbar auf die abstrahlte, die ihn betraten. Jeder Raum war schon angefüllt mit Symbolen, die ihre historische Bedeutungsenergie auf Einheimische wie Besucher abschossen. In diesem Sinne hat „Die Geschichte“ auch die Auseinandersetzungen über das Stadtschloß, das Holocaust-Mahnmal geformt. Sie wurden konzipiert und diskutiert als Bedeutungskraftwerke; eigentlich ging die Auseinandersetzung bloß darüber, welche historische Bedeutung mittels welcher Technologie zur Energie-Übertragung auf die Gegenwart, vor allem auf die Zukunft gebracht werden sollte. Ob das überhaupt geht, war keine Frage.
Aber vielleicht entsteht jetzt ein anderes Leitmedium. Vielleicht löst sich „Die Geschichte“ auf, und wir stolpern nicht mehr anhaltend zwischen lauter Symbolen herum – wollen auch keine mehr als „Die Mitte“, das Stadtschloß, das Holocaust-Mahnmal, errichten.
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