■ Die Grenzen in Irland, dem Libanon, Irak oder Ex-Jugoslawien machen keinen Sinn. Die Folge: dauerhafte Krisen
: Erblast künstlicher Staat

Das Wort „Grenze“ ist in Irland Teil des politischen Vokabulars geworden. Und zwar auch für jene, die mit der eigentlichen Grenze noch nie etwas zu tun hatten. „Die Grenze“ – so wie dieses Wort benutzt wird, scheint man vergessen zu haben, daß es sich um eine Linie auf der Landkarte handelt.

Obwohl die irisch-irische Grenze an einigen wenigen Stellen einem natürlichen Verlauf folgt, macht sie geographisch nicht wirklich Sinn. Genausowenig wie die bosnisch-kroatische Grenze oder die Grenzen im Nahen Osten Sinn machen.

Irland ist kein Einzelfall. Zwischen 1918 und 1920 verbrachten Frankreich und Großbritannien zwei glückliche Jahre damit, sich neue Grenzen für den Nahen Osten auszudenken. Sie zerschnitten das alte Vilayet Syriens, schufen ein Mandatsgebiet, das sie Palästina nannten, und ein weiteres namens Transjordanien. Ein drittes Gebiet nannten sie Irak.

Die Briten kontrollierten diese Grenzen ebenso wie die durch sie neu entstandenen Nationen. Legitimiert waren sie durch das sacred trust, das Mandat des Völkerbundes, der Vorgängerorganisation der Vereinten Nationen.

Die Franzosen übernahmen indes die Region nördlich von Palästina und beschlossen, aus dem, was vom alten Syrien übrig war, einen neuen Staat zu schaffen. In den Bergen oberhalb der syrischen Küste lebten seit Jahrhunderten maronitische Katholiken, die seit dem Bürgerkrieg mit den Drusen von 1860 auf französischen Schutz angewiesen waren. Sie sprachen Französisch, gaben sich französische Namen, schickten ihre Kinder auf die Universitäten in Frankreich und wurden so umfassend frankophil, daß viele von ihnen selbst heute noch besser Französisch sprechen als Arabisch.

Auch in Nordirland existierte eine solche Bevölkerungsgruppe: die Protestanten. Sie fühlten sich eher britisch als irisch und waren gegenüber ihren Nachbarn im Süden auf Schutz angewiesen. Auch diese Minderheit bevorzugte britische Hochschulen für die Ausbildung ihrer Kinder. Die britischen Tories sahen sie als „ihre“ Iren, so wie auch die Franzosen die Maroniten als „ihre“ Leute empfanden. Die Maroniten Westsyriens bezeichneten Frankreich sogar als Mutterland.

Als Frankreich beschloß, das Mandatsgebiet zu teilen, sollten die christlichen Maroniten Syriens ihren eigenen Staat bekommen – benannt nach der Berglandschaft Libanon. Der Patriarch der maronitischen Kirche kämpfte 1919 in Versailles mit großer Hartnäckigkeit um möglichst viel Land. Denn die Maroniten sollten die Privilegierten des Libanons werden, das Land regieren und nach der Unabhängigkeit die Präsidenten stellen. Auch die Banken, der Hafen und die mächtigsten Ministerien sollten christlich geführt werden.

Der Staat erstreckte sich über ein weit größeres Gebiet als nur die Libanonberge. Die Franzosen gaben ihren Günstlingen auch die syrischen Städte Beirut, Sidon, Tyre und Tripoli. Die Muslime des neuen Libanons waren zwar von einer amerikanischen Völkerbunddelegation befragt worden – zwei Wissenschaftler besuchten pflichtbewußt alle Dörfer und Städtchen der betroffenen Region –, bevor die Franzosen ihre Grenzen zogen. Doch das Votum der großen Mehrheit, die sich gegen eine Abspaltung von Syrien aussprach, wurde nicht berücksichtigt.

2.000 Meilen entfernt versuchte fast zur selben Zeit der britische Kriegsveteran Captain James Craig, ebenfalls einen neuen Kleinstaat zu schaffen. Während die Franzosen klugerweise den Wunsch der Maroniten, der Libanon möge wie Algerien ein Teil Frankreichs werden, abgelehnt hatten, ging man in Irland einen anderen Weg. Craig hatte 1920 nur äußern müssen, er wünsche sich den Kleinstaat britisch, und schon war es passiert. Nordirland gehörte fortan zum „Vereinigten Königreich von Großbritannien und Irland“, war allerdings auch schon vorher quasi britisch gewesen. Hinzu kommt eine weitere interessante Differenz.

Die Franzosen hatten den Maroniten erlaubt, sich von Syrien so viele Quadratkilometer zu nehmen, wie sie kontrollieren konnten. Einzige Bedingung war, daß sie dort auf Dauer die Bevölkerungsmehrheit würden stellen können. Die Maroniten waren so begeistert über ein eigenes Land, daß sie nicht berücksichtigten, wie knapp ihre Mehrheit war. Schon 1932 reichte es nur noch gerade eben. Seitdem hat es vorsichtshalber keine Volkszählung mehr gegeben. Denn die würde unweigerlich zeigen, daß die Muslime im Libanon längst die Mehrheit stellen.

Captain Craig versuchte es mit einer entgegengesetzten Politik. Er entschied, nur an Gebieten festzuhalten, die auch künftig die protestantische Mehrheit garantieren konnten, so daß Nordirland protestantisch bleiben würde.

Während also Nordirland jeden Anspruch auf Cavan, Monaghan und Donegal aufgab, verleibte sich der Libanon Beirut, Sidon, Tripoli und das gesamte Bekaa- Tal ein. Captain Craig beschränkte seine Staatsidee auf den Machterhalt einer sektiererischen Erbengemeinschaft. Im Libanon setzte man indes auf Expansion, um die Macht des einen Bevölkerungsteils zu vergrößern. Libanesische Muslime wie nordirische Katholiken wurden zu Bürgern zweiter Klasse. In beiden Fällen führte dies zum Bürgerkrieg.

Neue Nationen entstanden in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg schlicht durch neue Grenzziehungen. Großbritannien orientierte sich, natürlich immer zum eigenen Vorteil, nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs im Nahen Osten neu. Dem Balkan gestatteten die Briten, die nationalen Grenzen selbst zu bestimmen. Und so geschah es, daß in dem Moment, als Nordirland und der Libanon entstanden, auch ein Staat namens Jugoslawien gegründet wurde; ein Königreich, um das sich sofort die heimischen Kommunisten und Faschisten stritten und das auseinanderbrach, als 1941 die Deutschen einmarschierten.

Die Nazis ließen die Kroaten gegen die Serben wüten und forderten die Muslime auf, sich auf seiten der Kroaten gegen die Serben zu stellen, was viele bosnische Muslime am Ende auf der Seite der Deutschen gegen die Sowjetunion kämpfen ließ. Im selben Jahr wurde der Libanon von den Alliierten besetzt, und die französischen Truppen der Vichy-Regierung kämpften gegen die dort lebenden freien Franzosen. Wenn Irland im Zweiten Weltkrieg besetzt worden wäre, hätte es gewiß denselben Konflikt gegeben.

Um keine dieser Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten, in Jugoslawien und Irland gezogen wurden, ist es seither ruhig geworden. Und es gab noch mehr Grenzen dieser Art. In Transkaukasien zum Beispiel. Eine trennte eine armenisch besiedelte Bergkette vom christlichen Armenien und schlug sie den muslimischen Aserbaidschanis zu. Diese Bergregion heißt Nagorny Karabach. Auch sie ist bis heute Brennpunkt politischer Unruhe geblieben.

Keine dieser Grenzziehungen entsprach der europäischen Tradition, Verteidigungswälle gegen mögliche Aggressoren zu errichten. Zwar trennt der Fluß Tigris zum Teil Syrien vom Irak, und der Jordan trennt Jordanien von der Westbank, und selbst in Nordirland verläuft die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland ein paar Kilometer an dem Fluß Foyle entlang. Aber im großen und ganzen sind diese Grenzen ohne jeden Verteidigungswert.

Genau deshalb war es beispielsweise auch so einfach für den Irak, 1990 in Kuwait einzumarschieren. Gleiches gilt für Israel, das 1967 das arabische Gebiet der Westbank besetzen konnte. Oder für die syrischen Truppen, die 1976 einen großen Teil des Libanons eroberten. Ohne auf große Hindernisse zu stoßen, zogen deshalb auch die Serben 1991 nach Vukovar. Die einzige natürliche Grenze, die das serbische Bosnien von Kroatien trennt, den Fluß Sava nämlich, konnten sie allerdings nicht überwinden.

Auch in Irland bot die Grenze weder der einen noch der anderen Seite Schutz.

So bescherten uns also die Großmächte Europas nach 1918 die Konflikte, die uns bis heute beschäftigen. Europäer haben die arabischen Nationen des Nahen Ostens geschaffen, um – angeblich – deren Forderung nach Unabhängigkeit nachzukommen. Aber wir haben ihnen Grenzen gegeben, die sie für immer abhängig gemacht haben. Sobald sie bedroht sind, brauchen sie unsere Hilfe.

Auf dem Balkan war Jugoslawien ein nützlicher Puffer zwischen den europäischen Zentralmächten und der islamischen Welt, die hinter der Südostgrenze Griechenlands begann. In Irland war die Grenzziehung nicht nur eine Konzession an die Protestanten. In den dreißiger Jahren erinnerte Winston Churchill seine Landsleute immer wieder an das strategische Interesse Großbritanniens am nordöstlichen Zipfel Irlands – als militärische Basis für Einsätze der Königlichen Marine im Atlantik oder falls der irische Freistaat sich weigern sollte, im Kriegsfall gegen Deutschland mitanzutreten.

Die Schaffung der irisch-irischen Grenze war für den ersten Ministerpräsidenten der Irischen Republik, Eamon de Valera, ein „Verbrechen“. Wer sein Land als Einheit sieht, die nur von außen gestört werden kann, muß Teilungen so empfinden. Der Parteiführer der nordirischen Sozialdemokratisch-Liberalen Partei, John Hulme, hat wohl für viele gesprochen, als er am 27. Oktober 1993 dem britischen Independent sagte: „Großbritannien ist im 17. Jahrhundert wegen der irischen Beziehungen zu Spanien nach Irland gekommen. Das Vereinigungsgesetz von 1800 war die britische Reaktion auf die Verbindungen zu Frankreich. Man hatte Angst, daß Irland für die europäischen Feinde zur Hintertür wird. Das ist heute jedoch irrelevant geworden... Das Problem hat sich gewandelt, das Erbe ist geblieben. Und das Erbe ist ein geteiltes Volk.“

Es sind aber Völker, die Rechte haben, nicht Territorien.

Robert Fisk ist der in Beirut lebende Nahost-Korrespondent des Londoner „Independent“.