: Hardcore-Notate für den Safe
■ Erst jetzt kommt's raus: Anais Nin führte ein Tagebuch neben und unter dem Tagebuch
1933 nahm Anais Nin Kontakt zu Freuds abtrünnigem Lieblingsschüler Otto Rank auf. Aus der Couch- wurde sehr schnell eine Bettbeziehung, es folgten Abende, an denen sie von Henry Millers „eregiertem, feurigem Penis“ zu Rank in die analytischen Laken wechselte und hinterher im Tagebuch notierte: „Ich bin wie eine Hure, die sich hingibt, doch voller Wut, Verachtung und Bitterkeit bleibt.“ Und daß sie sich zwar „absolut durchgefickt“, aber nur wirklich gut fühle, wenn sie einen neuen Mann erobert habe. Was sie allerdings tatsächlich trieb, wenn sie sich von Mann zu Mann treiben ließ und vorgab, als Treibgut auch in den zarten Fängen von Henry Millers Gattin June gelandet zu sein, konnte man bisher nur vermuten. Nin, die schon vor ihrem Tod am 14. Januar 1977 eine Ikone sexueller Libertinage war, gab ihre Tagebücher zur Veröffentlichung frei. Sie vergaß allerdings zu sagen, daß es sich um ausgewählte, bereinigte und literarisch bearbeitete Passagen handelte.
Ihre intimen Notate hielt sie unter Verschluß. Aus gutem Grund, denn ihr Ehemann, Hugh Parker Guiler, sollte nicht unbedingt Einblick erhalten. Einmal allerdings, in der Frühphase ihrer Ehe, wollte er es wissen. Er spürte, daß Anais' Verhältnis zu Miller nicht nur literarisch motiviert war, suchte – und fand alle körperlichen Verrichtungen des Paars en detail beschrieben. Er war außer sich, und sie überzeugte ihn, er habe lediglich das „phantastische Tagebuch einer besessenen Frau“ gelesen. Das „echte“ Tagebuch habe sie gerade verlegt. Wenn er von der Bank zurückkomme, könne er das „echte“ lesen. Bis abends hatte sie Passagen neu geschrieben und beschlossen, auch fortan zweigleisig zu fahren: Hardcore für den Safe und Softporno für den Gatten, der sich fortan in der Rolle des Hanswurst übte.
Einblick in Nins Hardcore-Notate erhielt bisher niemand. Daß ihr zweiter Ehemann, Rupert Pole, den Safe öffnete und die Aufzeichnungen zur Begutachtung freigab, hat mit dem Renomée der Biographin zu tun, die Anfang der neunziger Jahre anfragte: Deirdre Bair, die 1981 mit einer hervorragend recherchierten Beckett-Biographie überraschte und 1990 eine Simone- de-Beauvoir-Biographie nachlegte. Auch in ihrer Nin-Recherche hält sie über weite Passagen die gewohnte Distanz. Im Gegensatz zu früheren Biographien schleichen sich allerdings kommentierende Töne einer politisch korrekten Richterin ein.
Etwa wenn Bair über die Zeit schreibt, in der Anais Nin schwanger wurde und nicht wußte, wer der Vater sei: Ihr Gatte, Miller oder der eigene Vater, der nichts dagegen einzuwenden hatte, Jahrzehnte der Trennung inzestuös aufzuarbeiten. Die Schwangere schwankte wochenlang, ließ erst sehr spät eine Frühgeburt einleiten und beschrieb alles minutiös. An solchen Stellen läßt Deirdre Bair, die fünfzig Kilometer von New York in einem typischen Holzhaus der amerikanischen Gründerzeit und in einer Landschaft lebt, die deutsche Kinogänger aus Ang Lees „Ice Storm“ kennen, jegliche Freundlichkeit fahren und konstatiert einen „ungeheuerlichen Egoismus und Geltungsdrang“. Was die Notate so grauenvoll mache: daß Nin „das menschliche Element, das einer Geburt innewohnt, einfach ablehnte und sie von Anfang an nur als Erfahrung betrachtet hatte, über die sie später schreiben konnte“.
Weil Anais Nin ihre sexuellen Slalomläufe in Form eines literarisierten Tagebuches inszenierte, mußte Bair zwangsläufig zur biographischen Zwiebelschälerin werden. Hinter dem Mythos der libertinär selbstbestimmten Frau stieß sie auf ein gehetztes Wesen, das in allen Männern immer nur den Vater suchte, der die Familie im Stich gelassen hatte, als Anais zehn Jahre alt war. Jürgen Berger
Deirdre Bair: „Anais Nin. Eine Biographie“. Aus dem Amerikanischen von Roberto de Hollanda und Pociao. Goldmann Verlag, München 1998, 670 Seiten, 32DM
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