: Ihr die Hand küssen und sterben
Die Nazis leisteten ganze Arbeit: Keine Straße erinnert heute an die „Kaiserin von Berlin“, die Madonna der 20er Jahre: Fritzi Massary. Carola Stern erzählt ihre Lebensgeschichte als ein aufgeklärtes Märchen ■ Von Nikolaus Merck
Sie war die Frau, nach der man sich sehnte. Grafen verschleuderten das Familienvermögen, um sie standesgemäß zu hofieren. Biedere Ehemänner erröteten, wenn sie das Lokal betrat, die boshaftesten Edelfedern des Feuilletons inspirierte sie zu hymnischen Gesängen. Hätte es in der Weimarer Republik einen Ersatz für den von vielen Kommerzienräten erträumten Roten Adlerorden der Kaiserzeit gegeben, schrieb Kurt Tucholsky, er hätte darin bestehen müssen, ihr einmal die Hand küssen zu dürfen. Als Melange von Grande Dame und Grande Kokotte war sie fleischgewordenes männliches Wunschbild, wie sie „ein Glanz“ zu werden, der Traum, den die kunstseidenen Ladenmädchen in den zwanziger Jahren träumten: Fritzi Massary.
Die Massary brillierte in Operette und Revue, vorzeitigen Genres der Trash- und Popkultur. Nonsens, kalkulierter Schwachsinn, serviert mit süffisanter Ironie voller sexueller Anspielungen – Fritzi Massary war ihre Prophetin. Eine europaweit verehrte Ikone wie heute nur Madonna. Ein frühes Marketing-Genie zudem. Sie warb für Bahlsen-Kekse, Pralinen, und gleich mehrere Zigarettenmarken wurden nach ihr benannt.
Dennoch scheint jede Erinnerung an diesen Megastar erloschen. Die Nazis leisteten ganze Arbeit. Bereits im Herbst 1932 vertrieben ihre Terrorkommandos Massary aus dem Metropol, nach dem Machtantritt säuberten sie die, weil „verjudete“, „gemeingefährliche“ Operette im Handumdrehen. Singspiele und Revuen gab's fortan nur noch auf arisch. Heute trägt kein Theater in Berlin, kein Platz, keine Straße den Namen von Fritzi Massary.
Ein Jahr nach ihrem Tod 1969 veröffentlichte Otto Schneidereit in der DDR ein Porträt der Operettendiva. Carola Sterns „Die Sache, die man Liebe nennt“ stellt erst den zweiten Versuch nach 1945 dar, den Glanz, den die einstige „Kaiserin von Berlin“ verbreitete, wieder aufzupolieren.
Um die Atmosphäre Berlins in der Frühe des Jahrhunderts einzufangen, hat sich Carola Stern durch einen Berg von Erinnerungsbüchern, Darstellungen und Archivmaterialien gewühlt. Zwar strotzt ihre Darstellung mitunter vor Klischees vom musikalischen Wien und dem modernen, temporeichen Berlin. Aber um ein analytisches, reflektierendes Werk war es Stern auch nicht zu tun. Vielleicht ähnelte das Leben der Massary dazu zu sehr jenen törichten Operetten, mit denen die gefeierte Sängerin 25 Jahre lang ihren Zeitgenossen den Kopf verdrehte. Entstanden ist so eine Art aufgeklärtes Märchen mit soziologischen Einsprengseln.
Da gibt es wunderbare Genreszenen aus dem jüdischen Familienleben in Wien, in denen entsetzte Väter die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie vom Berufswunsch ihrer Kinder erfahren. Nachdem sie alles dafür getan haben, gesellschaftliche Anerkennung und bürgerliche Sekurität zu erwerben, zieht es ihre Sprößlinge ausgerechnet auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Für die Familienernährer bedeuteten sie oft genug das Gegenteil. Gerade berufstätige Töchter gefährdeten die Kreditwürdigkeit und außerdem, viel tiefer als bis zum Theater konnte man um die Jahrhundertwende nicht sinken. Das schildert Stern überaus anschaulich.
Operettenleben mit gebrochenem Herzen
Rechtlos, den Machenschaften beutelschneiderischer Direktoren ausgeliefert, die Choristinnen und Schauspiel-Elevinnen zumal, die von den Männern als eine Art Edelhuren betrachtet wurden. Auch die Massary entgeht diesem Schicksal nicht. Ihre Affäre mit einem schneidigen Grafen endet desaströs. Mit gebrochenem Herzen und einer unehelichen Tochter. Sie hat noch Glück, daß die für solche Fälle vorgesehene fristlose Kündigung des Engagements nicht ausgesprochen wird.
Wie nah Bordell und Bühne beieinanderlagen, beschreibt die Stern anhand des Berliner Metropol-Theaters; hier begann 1904 Massarys Aufstieg zur tonangebenden Diva. Während sich bei den Premieren der neuesten Revuen und Operetten die gute Gesellschaft ein Stelldichein gab, wurde der Wandelgang nach Beginn der Vorstellung für den freien Verkehr geöffnet. Eine Mark kostete der Eintritt in diesen Kontakthof, auf dem professionelle Damen Ausschau nach zahlungskräftigen Freiern hielten.
Patriarchalische Ehe mit Max Pallenberg
Aber Carola Sterns Lebensbild mit sozialem Kontext geht über das launige Zeitpanorama hinaus. Sie gibt auch ein Doppelporträt des Künstlerehepaares Fritzi Massary und Max Pallenberg. Eine Verbindung der – wenn auch etwas zu kleinen und molligen – Schönen mit dem Faun, aus der die Autorin, voller Sympathie für die Frau, ein Bild der damals üblichen patriarchalischen Ehe entwickelt. Pallenberg stellt man sich wohl am besten als eine Art zugespitzter Mischung aus Karl Valentin und Hans Moser vor, ein von Max Reinhardt bewunderter, genialer Darsteller des Schwejk (bei Ernst Piscator), von Molière-Charakteren und „kleiner“, bösartiger Männer. Dazu ein Geizkragen und Schürzenjäger. Die Verantwortlichen einer in der Weltwirtschaftskrise 1929 zusammengekrachten Amsterdamer Bank verfolgte Pallenberg von der Bühne aus so lange, bis sie ihm den Großteil seines bei ihnen angelegten Geldes zurückgaben. Als Pallenberg 1934 bei einem Flugzeugabsturz starb, war auch Massarys Karriere beendet.
Mit Massarys und Pallenbergs Lebenslauf als roten Faden verfolgt Carola Stern den Weg jener aus dem alten Kakanien stammenden, jüdischen Unterhaltungskünstler, die in den zehner und zwanziger Jahren das kulturelle Leben Berlins prägten. Von den Anfängen in der Provinz über ihre Hochzeit in den Metropolen bis ins Exil in Frankreich und Amerika weitet sich das Doppelporträt zum Gruppenbild mit Dame. Am Beispiel der Massary zeigt sie, welche Illusionen sich die überwiegend unpolitischen Künstler machten. Ganz gewiß, glaubten sie, würden die „anständigen Deutschen“ eine Machtübernahme durch Hitler verhindern. Und hatten sie, die Juden, nicht längst ihrer Herkunft entsagt und sich der Mehrheitsgesellschaft assimiliert?
Menschen wie Fritzi Massary konnten sich nicht vorstellen, daß „das Publikum“ der Vertreibung seiner Lieblinge tatenlos zusehen würde. „Sie vertrauten diesem Land“, schreibt Carola Stern. Die Massary hatte Glück, sie überlebte ihre Illusionen. Im kalifornischen Exil, das sie 1939 bezog und nur noch selten für Besuche in Europa verlassen hat.
Carola Stern: „Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary“. 378 Seiten, Rowohlt Berlin, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen