: Vergangenheit und Gegenwart
40 Jugendliche aus drei Ländern auf den Spuren der Geschichte ■ Von Annette Weise
Die 16jährige Alessandra aus Reggio Emilia ist positiv überrascht: Sie hatte gedacht, ihr würden auf den Straßen in Deutschland „ganz viele Neonazis“ begegnen. Nun hat sie erfahren, „daß es auch Gruppen gibt, die sich gegen den Faschismus engagieren.“
Alessandra ist eine von 40 Jugendlichen aus Italien, Norwegen und Deutschland, die sich in der vergangenen Woche in Hamburg trafen, um fünf Tage lang gemeinsam über „Vergangenheit und Gegenwart“ und „Wege des europäischen Integrationsprozesses“ nachzudenken. Das Seminar war der Auftakt für einen Zyklus von drei Begegnungen zwischen Jugendlichen aus den drei Ländern. Das trinationale Projekt wird von „Jugend für Europa“, einem Aktionsprogramm der Europäischen Union, gefördert.
Das Bild von den Neonazi-Horden in Deutschland sei sehr verbreitet in den italienischen Medien, sagt Alessandra. Ebenso, daß die Deutschen sehr ernst sind und „immer auf die Uhr gucken“. Beides hat sich für sie nicht bestätigt.
Ein Gutteil dieser Vorurteile gegenüber den Deutschen stammt aus der Geschichte. Im Seminarzyklus geht es deshalb auch darum, kennenzulernen, was der Nationalsozialismus für die verschiedenen Ländern bedeutet hat. Der Schwerpunkt der historischen Betrachtungen liegt auf der jeweiligen Gastgeberstadt und so besichtigten die SchülerInnen diesmal das Rathaus, das Grindelviertel und die KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Die 16jährige Schülerin Guilia ist beeindruckt: Es sei ein sehr großer Unterschied, ob man aus den Büchern lernt oder etwas mit eigenen Augen gesehen hat, sagt sie. Die Norwegerin Eugenia fügt hinzu, daß das Wissen über die nationalsozialistische Geschichte nun sehr viel körperlicher in ihrer Erinnerung gespeichert sei.
Die drei Organisatorinnen Petra Barz, Claudia Lenz und Marion Koch haben den Zeitpunkt des ersten Seminars bewußt auf die Woche um den 9. November, den sechzigsten Jahrestag der Reichsprogromnacht gelegt. Wichtig sei für sie der Vergleichscharakter der Vergangenheit gewesen, „die Besatzung Italiens und Norwegens durch Deutschland beispielsweise ist in der deutschen Auseinandersetzung nicht so präsent“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Marion Koch.
Nicht nur das Wissen über die Geschichte, auch der Umgang mit ihr wird thematisiert: Die Hamburgerin Linda sagt, sie sei von der deutschen NS-Vergangenheit stark beeinflußt. Obwohl sie persönlich nichts damit zu tun hatte, meint sie, sie habe sich zu rechtfertigen und die Schuld zu tragen – „und das ist auch okay so.“ Für Eugenia steht die Frage im Vordergrund, „wie so etwas passieren konnte“. In Norwegen sei man mißtrauisch gegenüber den Deutschen. In Hamburg muß sie feststellen, „die Deutschen sind genau wie wir.“
Die Begegnung in Hamburg hat der freie Bildungsträger „Arbeit und Leben“ von DGB und Volkshochschule veranstaltet. Im nächsten Jahr organisiert das italienische Widerstandsarchiv Istoreco ein Treffen in Reggio Emilia in der Nähe von Bologna. Das Jahr darauf sind die TeilnehmerInnen bei der „Danvik Folkehogskole“ in Drammen bei Oslo zu Gast.
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