: Thüringer Rostbratwurst für Rezzo
Der bündnisgrüne Fraktionschef Rezzo Schlauch tourt durch Thüringen und Sachsen, stellt sich bei seinen Parteifreunden vor und bessert seine Kenntnisse als „Durchschnittswessi“ auf ■ Von Nick Reimer
Plötzlich ist er verschwunden. Ein bißchen verloren steht der Troß an der Ecke, reckt Hälse, schaut auf die Uhr. Der Zeitplan ist schließlich ziemlich straff. Dann kommt Rezzo Schlauch endlich aus einem Laden gestürmt, mit einem neuen Schal um den Hals. Der Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen ist auf „Osttournee“. Im Osten ist es ziemlich kalt.
Seit Dienstag versucht sich Schlauch ein Bild von den neuen Ländern zu machen. Er habe die Kenntnisse „eines normalen Durchschnittswessis“, bekennt er. Und das reiche nun mal nicht für das, „was der Kanzler Chefsache nennt“ – den Aufbau Ost. Deshalb nutze er die sitzungsfreie Woche in Bonn für seine Bildungsreise durch Thüringen und Sachsen. Die Thüringer Journalisten, die zum Pressefrühstück in eine kleine Erfurter Weinhandlung gekommen sind, gucken skeptisch. Um Zweifel zu vertreiben, führt Schlauch an, „daß erst auf bündnisgrünen Druck“ ein Bundestagsausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länder eingerichtet worden sei, in dem Werner Schulz sitze, zugleich Ost-Sprecher der Fraktion. Da wird nachgefragt. Hatte Schulz nicht Anspruch auf Schlauchs Posten erhoben? Hielten ostdeutsche Landespolitiker nicht einen Ostler an prominenter Stelle für das wichtigere Signal? „Ich habe politisch nie eine Rivalität mit Werner Schulz gehabt“, antwortet Schlauch. Die Personalentscheidung sei Beleg für die innerparteiliche Demokratie: „Wir sind keine Partei, die für fünf Vorstandsposten auch nur fünf Kandidaten nominiert.“
Steuerreform, Koalitionsklima, 620-Mark-Jobs – die Journalisten fragen die Tagespolitik ab, und Schlauch glänzt sowohl mit Argumenten als auch durch Rhetorik. Nach seiner Prognose für die Thüringer Landtagswahl im nächsten Jahr befragt, diktiert Schlauch ein „recht optimistisch“ in die Blöcke und streift sich über den linken Teil des noch verbliebenen Haupthaares. Dieses „recht optimistisch“ wird der Ostpfadfinder in den nächsten Tagen noch öfter benutzen.
Vielleicht liegt es an den Themen, die der Bundespolitiker mit den Thüringer Landesjournalisten bespricht, vielleicht an seiner glatten Argumentation: Plötzlich ist Ruhe. Schlauch guckt in die Runde. Die Runde guckt zu Schlauch. „Der Käse ist aber gut“, sagt er dann und bestellt noch einen Kaffee. Draußen warten die Taxis.
In der Umformtechnik Erfurt, einem Unternehmen mit 100jähriger Tradition, ist es Schlauch, der fragt. Der Rundgang durch den Betrieb, den das tschechische Maschinenbauunternehmen Skoda nach der Wende gekauft hat, läuft ein bißchen so, wie Rundgänge hier schon zu DDR-Zeiten stattfanden. Der tschechische Technik- Geschäftsführer Jiri Kotina spart nicht mit Wörtern wie „führend“ oder „Weltspitze“, Kunden sind immer noch die Russen. Auf kleinen Tafeln sind die Schichtkollektive verewigt. Der Unterschied zum DDR-Rundgang: Der Betrieb macht heute Gewinn – und zwar in harten Devisen.
„Es gibt in Tschechien zwei Skoda-Werke“, klärt Kotina auf: „Den Autohersteller und den Maschinenbau, unser Mutterunternehmen. Es fertigt Kraftwerksausrüstungen, Kernkraftwerke...“ Kotina stockt, weil er merkt, wie sich Schlauchs Stirn in Falten legt. „Moment“, sagt er, „das war jetzt falsch. Ich wollte sagen ökologische – nun – ökologische Verkehrsmittel.“ Der Grüne legt ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. Später erklärt sich Schlauch „beeindruckt“ – auch das wird in den nächsten Tagen noch des öfteren vorkommen – und bekennt seinen Trugschluß: „Wer bei uns zu Hause glaubt, dort würde der Stand der Technik bestimmt, wird hier eines besseren belehrt.“ Diese Erkenntnis beflügelt den Politiker – diesmal fährt seine Hand über den rechten Teil des verbliebenen Haupthaares –, Visionen zu entwerfen. „Mir schwebt da im Kopf ein ,Modell Ost‘ rum, eine Art Tagung, die Kommunikationstransfair betreibt.“ Gute wirtschaftliche Ansätze aus dem Osten könnten dort der westdeutschen Gesellschaft vorgestellt werden, „nicht nur so etwas wie die Erfurter Umformtechnik, sondern auch das Teilzeitmodell der Lehrer, bei dem durch Verzicht Jobs erhalten bleiben.“ Vor der Kantine wartet der Bus.
Schlauch verzieht sich ins Heck, wälzt Akten, telefoniert mit Bonn. Die Thüringer Allgemeine bittet um ein Interview. Schlauch spricht die Sätze ins Handy, die er am Morgen schon einmal gesagt hat. Nein, „Sie werden mich nicht dazu kriegen, Probleme mit der SPD herbeizureden“. Es gebe nämlich keine – Schlauch fläzt behaglich im Sessel – die Atmosphäre sei wirklich gut. „Der Aufschrei sowohl auf der Wirtschaftsseite als auch bei den Gewerkschaften zeigt doch, daß wir auf dem richtigen Weg sind.“ Da hat sich der Bus verfahren.
Rückwärtsgang, Vorwärtsgang – in den Gassen Weimars muß der Fahrer mächtig rangieren, um weder rechts noch links anzuecken. Auf dem Marktplatz gibt es dann die erste Thüringer Rostbratwurst für den bündnisgrünen Ostkundschafter. „Ziemlich gut“, lobt Schlauch, was relativ ist, wie Olaf Möller meint, und der muß es wissen: Der Thüringer Landessprecher war mal Jurymitglied in einem Wettbewerb, in dem es um die beste Wurst ging. Zu einer Diskussion über eine wirklich gute Thüringer Bratwurst kommt es dann aber nicht, weil Carsten Meyer erscheint, der bündnisgrüne Baudezernent in Weimar, und einen zielstrebigen Eindruck macht. Meyer will dem Bonner ein bißchen „Hauptstadtflair“ vermitteln. Die 60.000 Weimarer sind bekanntlich die Gastgeber der nächsten Europäischen Kulturhauptstadt, der letzten in diesem Jahrtausend. Meyer führt zum Herder-Denkmal, zur Musikhochschule, zum Wohnhaus von Schiller, „der ziemlich schlecht wohnte, zuviel arbeitete und viel zu früh starb“.
Rings um das „Klassiker-Denkmal“ auf dem Theaterplatz werden die Buden für den Weihnachtsmarkt aufgebaut. An der grauen Fassade des Nationaltheaters, in dem die Verfassung der Weimarer Republik angenommen wurde, leuchten Spruchbänder: „1999 Weltklasse für Deutschland, 2000 Kreisklasse für Weimar“. Aus Geldmangel soll das Theater – Baudezernent Meyer beziffert den Sanierungsbedarf auf 80 Millionen Mark – mit dem Erfurter Haus fusionieren. Allerdings wird das erst noch gebaut, für 130 Millionen Mark. Schlauch, dessen Schuhspitze bis jetzt festgetretenen Schnee losgestochert hat, sagt „Waas?“ und erhitzt sich an „diesem Wahnsinn“. Ein Fotograf findet das sehr schön und versucht, Schlauch ein wenig nach rechts zu dirigieren. „Aber doch nicht vor der Klassik!“ sagt der bündnisgrüne Fraktionschef und macht auf dem Absatz kehrt. Hochkultur ist ihm ein Graus.
In einer „Stadt, in der man von Klassikern geradezu erdrückt wird“, ist Schlauch schließlich froh, im alternativen Kulturzentrum ACC zu Gast zu sein. Gut und schön sei die Kulturhauptstadt, „doch wir leben auch danach noch in Weimar“, sagt der Geschäftsführer des Hauses. Schlauch entspannt sich, dem verbliebenen Rest der rechten Seite seines Haupthaares kommen Dauerstreicheleinheiten zugute. „Was“, fragt der Geschäftsführer, „bleibt denn von dem einjährigen Spektakel?“ Neben der Hochkultur, den teuren Gastspielen und Events müsse auch das gefördert werden, was danach in Weimar weiterbestehen wird. Schlauch sagt zu, bei seinem Treffen mit Staatsminister Naumann in vierzehn Tagen über „das Thema Finanzierung“ zu reden. Der Thüringer Spitzenkandidatin Anne Voß fällt auf, daß es bislang keine gesellschaftliche Diskussion darüber gegegeben habe, „was wir eigentlich mit dieser Kulturhauptstadt wollen“. Aber da ist die Zeit schon wieder rum.
Richard Dewes ist dran. Der Thüringer Innenminister und SPD-Chef ist extra aus Erfurt herübergekommen, um mit Schlauch zu plaudern. „Wir beide treffen uns, scheint's, immer dann, wenn's uns gutgeht“, sagt Dewes. „So“, gibt Schlauch zurück, „wie steht's denn mit der PDS?“ Dewes probiert sein schlaues Lächeln: „Das Ziel ist immer die absolute Mehrheit.“ Worauf Schlauch natürlich ein „Na, das werden wir euch schon verhageln“, zurückgeben muß. Dann haben die Fotografen ihre Motive, die Türen schließen sich. Tatsächlich wird die Thüringer SPD schwer kämpfen müssen, wenigstens als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorzugehen. Und auf die Grünen wartet das große Zittern. Gleichwohl, „recht optimistisch“ sehe er die bündnisgrünen Wahlchancen, sagt Schlauch nach dem Treffen. Dewes habe zum Ausdruck gebracht, daß er die Konstellation in Bonn gut findet. Draußen steht der Bus.
Rezzo Schlauch kriecht ins Heck und spielt toter Fisch. Die Augenlider flimmern, der bullige Körper sinkt zusammen. Nur das Handy am Ohr und zuweilen heftig vorgetragene Sätze zeigen, daß zumindest sein Geist hellwach ist.
Muß er auch, denn in Jena folgt die wohl anspruchsvollste Veranstaltung des Tages. Schlauch spricht vor etwa 50 Unternehmern, die eindringlich eine konsequentere Mittelstandspolitik von den Bündnisgrünen fordern. Schlauch läßt diesmal sowohl die linke als auch die rechte Hälfte seines Haupthaares unberührt. „Langsam, liebe Leute“, sagt er, „wir arbeiten jetzt gerade mal drei Wochen.“ In der Zeit könne man nicht das reparieren, was die Vorgänger „verschlampt“ hätten. „Ihr wollt was von uns“, sagt einer der Unternehmer, „nämlich Arbeitsplätze. Da müßt ihr euch auch Forderungen von uns gefallen lassen.“
Schlauch hat danach mit seinen engen Beratern noch ein Bier getrunken. Gestern früh startete der Bus um acht. Kurz vor Chemnitz stand er im Stau.
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