: Kinderflüchtlinge
Vor sechzig Jahren, am 2. Dezember 1938, erreichte ein erster Kindertransport mit 196 Kindern die englische Küste bei Harwich. Es war der Beginn einer Hilfsaktion für jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen, die Zuflucht vor dem Nationalsozialismus fanden. Allerdings ohne ihre Eltern.
Auslöser war die Reichsprogomnacht vom 9./10. November 1938: 91 Tote, fast zweihundert in Brand gesetzte Synagogen, 7.500 verwüstete Geschäfte und 30.000 Verhaftungen überzeugten die späteren Alliierten von der Notwendigkeit einer humanitären Soforthilfe zumindest für die Kinder.
Allein Großbritannien nahm 10.000 jüdische Kinder auf. Nach Schweden konnten fünfhundert einreisen. Ein Plan, 20.000 Kinder in den USA außerhalb der Einwanderungsquoten aufzunehmen, scheiterte im amerikanischen Kongreß. Die meisten dieser Kinder sahen ihre Eltern nie wieder.
1988 organisierte Bertha Leverton, mit 15 Jahren als Bertha Engelhard selber mit einem Kindertransport aus München nach London geflohen, ein Treffen, an dem über tausend ehemalige Kinderflüchtlinge teilnahmen. Daraus entstand die Idee zu dem Buch Ich kam allein. Die Rettung von zehntausend jüdischen Kindern nach England 1938/39 (hrsg. von Rebekka Göpfert, dtv, 177 S., 16,90 Mark).
Rund 10.000 Kinder und Jugendliche aus aller Welt leben heute in der Bundesrepublik. Sie sind vor Krieg, Armut, politischer oder ethnischer Verfolgung ihrer Eltern geflohen; die meisten stammen aus Kurdistan, Afghanistan und Westafrika. Im Beamtendeutsch heißen sie: Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge.
Wie Erwachsene müssen auch Kinder und Jugendliche politische Verfolgung nachweisen. Zwar hat die Bundesrepublik 1992 die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert und damit Flüchtlingskindern „angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe“ zugesichert. In der Praxis werden ihre Rechte im Asylverfahren aber beschnitten. Beispielsweise wird häufig versucht, das Alter der jugendlichen Flüchtlinge willkürlich hochzusetzen.
Pro Asyl fordert für Flüchtlingskinder uneingeschränkten Schutz und ein gesichertes Aufenthaltsrecht. Überdies hat sich jüngst in Hamburg der Bundesfachverband für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge gegründet. Alexander Heinz
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