Langweilige Nachrichten aus Bonn

Die rot-grüne Regierung bietet ein einziges Bild des Durcheinanders. Daran konnte auch der Koalitionsausschuß gestern abend nichts ändern. Alle Meinungen sind ebenso richtig wie egal. Der Regierung fehlt ein Koordinatensystem  ■ Von Bettina Gaus

In diesen Wochen müsse es doch ganz unglaublich spannend in Bonn sein, meinen politisch interessierte Freunde und Kollegen. Eine Zeitenwende aus unmittelbarer Nähe miterleben zu können – was für ein Privileg! Nur kein Neid. Im Auge des Taifuns bleibt es ganz ruhig. Bonn ist derzeit vor allem eins: langweilig. Nachrichten sind für sich allein genommen noch nicht interessant. Erst müssen sie sich in ein Koordinatensystem einfügen lassen, also für Analysen und weitergehende Schlußfolgerungen geeignet sein. Die Explosion einer Bombe kann das Erbe eines längst vergangenen Krieges sein oder den Beginn eines neuen markieren. Für die Opfer macht das keinen Unterschied, für die Bedeutung der Meldung schon. In Bonn scheinen derzeit oft Bomben zu explodieren. Aber dann hat doch nur jemand mit dem Windmachen ein bißchen Rauch aufsteigen lassen.

Selten zuvor sind im Bundestagsrestaurant so viele Tassen Kaffee von ratlosen Parlamentskorrespondenten auf der Suche nach einem Koordinatensystem getrunken worden. Die Journalisten versuchen sich in Gesprächen auch untereinander ein Bild von der diffusen Lage zu verschaffen. Die Forderung der Grünen, den Koalitionsausschuß zusammenzurufen, sei doch sehr vernünftig, findet einer. „Ich halte es für totalen Schwachsinn“, bekommt er zur Antwort. Na ja, das könne natürlich auch sein. An jeder Ansicht ist immer irgend etwas dran. Deshalb sind auch alle Meinungen ebenso richtig wie egal.

Immerhin hat sich auch der Bundeskanzler den Wunsch nach einem Treffen des Koalitionsausschusses zu eigen gemacht und gestern abend dazu eingeladen. Auf das Ergebnis haben die Medien tagelang mit einer verräterischen Sehnsucht gewartet. Tiefverwurzelt scheint der Glaube, irgendeine Konferenz oder eine Erklärung könne doch endlich den Durchbruch bringen, der aus den zähen Mühen der Ebene herausführt. Dabei hatten sich die Teilnehmer doch schon im Vorfeld darum bemüht, hochgesteckte Erwartungen zu dämpfen. Allzu konkrete Beschlüsse waren nicht zu erwarten, es ging vor allem um das Klima in der Koalition. „Das Wichtigste ist tatsächlich, unsere Zusammenarbeit in ein vernünftiges Fahrwasser zu bringen“, meinte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Kristin Heyne.

Ein vernünftiges Fahrwasser: Das muß wohl auch bedeuten, den Nachrichtenfluß in überschaubare Bahnen zu lenken. Derzeit werden Meldungen so schnell produziert, daß viele schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt sind. Die Mehrwertsteuer soll rauf oder sie soll es nicht, der Benzinpreis auch oder eben nicht, und der mögliche Zeitpunkt ist außerdem noch ein dankbares Thema. Wenigstens mal öffentlich über all das reden, scheint eine Parole. Himmel hilf, das nun gerade am allerwenigsten, eine andere. Zuständig für die Koordination zwischen Regierung und Fraktionen sowie zwischen Bund und Ländern ist Kanzleramtsminister Bodo Hombach. Wenn überhaupt, dann hat er bislang im verborgenen gewirkt.

Eine Reihe von Regelungen der alten Regierung, die zum 1. Januar in Kraft getreten wären, will die neue Regierung noch vorher rückgängig machen. So wird die geplante Rentenabsenkung ausgesetzt und die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder eingeführt. Das Kindergeld soll erhöht werden, Bauminister Müntefering will außerdem das Wohngeld anheben. Die Grünen möchten die Bahn entlasten. Finanzminister Lafontaine muß sehr viel Geld auf einmal auftreiben und erwägt dem Vernehmen nach, weiteren Bundesbesitz zu verkaufen. Da muß er sich dann allerdings noch eine gute Begründung dafür einfallen lassen, warum bei ihm eine vernünftige Maßnahme ist, was bei seinem Vorgänger Theo Waigel als Verschleudern des Familiensilbers angeprangert wurde. Dürfen's vielleicht lieber doch ein paar Schulden mehr sein?

Zu einem brauchbaren Koordinatensystem gehört auch das System der Macht. Bislang ist aber nicht erkennbar, wer hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält – auf der offenen Bühne tut es ohnehin noch keiner. Der Kanzler ist überwiegend auf Reisen, ebenso wie sein Stellvertreter Joschka Fischer. Bevor feststeht, wie stark die Akteure wirklich sind, läßt sich nicht beurteilen, mit welcher Äußerung welches Signal an welche Adresse mit welchen möglichen Folgen ausgesandt werden sollte. Oder ob wieder einmal nur so dahingeplappert wurde.

Wollte Außenminister Fischer mit seiner Anregung, die Nato möge auf die Option des atomaren Erstschlags verzichten, den Grünen kurz vor deren Parteitag seine Grundsatztreue demonstrieren? Oder wirklich die Machtprobe mit Verteidigungsminister Rudolf Scharping wagen? Nur Tage später rückte er in einer anderen Frage von seiner bisherigen Ansicht ab: In Einzelfällen müsse die Nato auch ohne UN-Mandat eingreifen, sagte er. Hat er sich mit der Erstschlagsdiskussion Freiraum für diesen Sinneswandel verschaffen wollen? Oder einfach einen Anfängerfehler gemacht? Vielleicht weiß nicht einmal er selber die Antwort auf diese Fragen. Lohnt da der Aufwand einer Recherche?

Während die Koalition noch immer keinen Kurs erkennen läßt, haben sich die meisten Bonner Journalisten inzwischen auf eine gemeinsame Linie geeinigt: Die Regierung müsse die berühmten 100 Tage Zeit bekommen, bevor sich ein Urteil über sie fällen lasse, und sie solle sich selbst auch mehr Zeit lassen, bevor sie weitreichende Pläne in Angriff nimmt. Klingt gut. Aber in diesen Wochen muß Lafontaine den Haushalt für 1999 erstellen. Wenn sich die Koalition in großer Runde zwecks Klimapflege trifft, bringt ihm das noch lange kein Geld.