: Die USA interpretieren das Völkerrecht neu
■ Die Angriffe auf den Irak sind durch die Charta der Vereinten Nationen nicht gedeckt
Zumindest auf dem Papier ist die Sache eindeutig. Laut Charta der Vereinten Nationen ist – von zwei Ausnahmen abgesehen – jegliche Form militärischer Maßnahmen eines oder mehrerer UNO- Mitglieder gegen ein anderes Mitglied völkerrechtswidrig. Die zwei Ausnahmen regelt Kapitel 7 der Charta. Erstens: die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung gegen einen zuvor erfolgten Angriff (Artikel 51). Und dies auch nur so lange, bis die zweite Ausnahme Realität wird: Der UNO- Sicherheitsrat entsendet in Reaktion auf „einen Akt der Aggression oder eine Gefährdung bzw. den Bruch des Friedens“ UNO- Kampftruppen zwecks Wiederherstellung von „internationalem Frieden und Sicherheit“, oder er ermächtigt die UNO-Mitgliedsstaaten ausdrücklich, militärische Maßnahmen zu diesem Zweck zu ergreifen (Art. 39–49).
Seit der Irak mit seinem Überfall auf Kuwait am 2. August 1990 die Golfkrise auslöste, hat der UN- Sicherheitsrat eine derartige Ermächtigung zur „Anwendung aller erforderlichen Mittel“ nur ein einziges Mal erteilt. Laut Resolution 678 vom 29. November 1990 durften die UN-Staaten „alle erforderlichen Mittel anwenden“, um die Besetzung Kuwaits rückgängig zu machen. Dieses Ziel von Resolution 678 war Ende Februar 1991 erreicht. Weder die Waffenstillstandsresolution 687 vom 3. April 1991 (mit der Bagdad zur Zerstörung seiner Massenvernichtungsmittel sowie zur Einstellung entsprechender Rüstungsprogramme verpflichtet wurde) enthält eine entsprechende Ermächtigung noch irgendeine andere der zahlreichen seitdem beschlossenen Irak-Resolutionen. Am Schluß von Resolution 687 heißt es lediglich, „der Sicherheitsrat behält sich vor, weitere Schritte zu unternehmen, die für die Durchführung dieser Resolution nötig sein könnten“. Solche Schritte hat der Rat seitdem aber nie genehmigt.
Vor diesem Hintergrund bezeichnen Völkerrechtler wie Jochen Frowein, Direktor des Max- Planck-Insituts in Heidelberg, oder der Zürcher Professor Daniel Thürer die jüngsten Angriffe der USA und Großbritanniens ohne Einschränkung als „völkerrechtswidrig“ und „Verstoß gegen die UNO-Charta“. Frowein vertrat diese Position bereits während der Irakkrise im Februar dieses Jahres. Damals nahmen die USA und dann auch Großbritannien erstmals öffentlich die Position ein, mit der auch die jetztigen Angriffe gegen Irak als völkerrechtskonform gerechtfertigt werden: Militärschläge gegen Irak seien durch „frühere UNO-Resolutionen gedeckt“ und bedürften „keiner weiteren Beschlüsse des Sicherheitsrates“. Im Februar widersprachen dieser Position neben den drei Ständigen Sicherheitsratsmitgliedern Rußland, China und Frankreich und vielen anderen Staaten auch die deutschen Oppositionsparteien SPD und Grüne. Der damalige Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) äußerte sich zumindest intern ebenfalls „zutiefst besorgt“ über die „Aushöhlung und Untergrabung des Völkerrechts durch die USA“.
Nach der diplomatischen Beilegung der Februarkrise durch UNO-Generalsekretär Kofi Annan kündigte der Sicherheitsrat dem Irak „schwerste Konsequenzen“ an, falls Bagdad die Annan gegebene Zusage zur Wiederaufnahme „uneingeschränkter Kooperation“ mit der Unscom nicht einhält. Nach einer ähnlichen Kontroverse über die völkerrechtliche Grundlage für ein Eingreifen der Nato im Kosovo verabschiedete der Rat im September eine gleichlautende Ankündigung an die Regierung in Serbien. Doch in beiden Resolutionen hält der Rat ausdrücklich fest, daß konkrete Maßnahmen militärischer oder anderer Art eines weiteren Beschlusses bedürfen.
Nach der Zuspitzung der Irakkrise und diplomatischer Beilegung durch Annan Mitte November drohten die USA mit „automatischen militärischen Maßnahmen ohne weitere Verhandlungen“, sollte der Irak erneut seine Zusagen brechen. Aber auch diese – von Präsident Clinton inzwischen als „Ultimatum“ bezeichnete – unilaterale Drohung sowie die Rats-Resolution vom Februar haben die Völkerrechtslage nach Meinung der Professoren Frowein und Thürer nicht verändert.
Doch es scheint, die beiden Völkerrechtler stehen mit dieser Auffassung zunehmend allein da. Die SPD und auch Teile der Grünen sind in den letzten Tagen auf die Position der USA und Großbritanniens eingeschwenkt und haben damit ihre eigenen Parteiprogramme zur Makulatur erklärt. Andreas Zumach, Genf
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