„Antisemitismus wird zum kulturellen Code“

■ Wolfgang Wippermann, Historiker und Faschismusexperte an der Freien Universität Berlin, sieht eine Verbindung zwischen der Holocaust-Diskussion und der Zunahme antisemitischer Straftaten

taz: Berlins Innensenator Eckart Werthebach geht bei dem Sprengstoffanschlag auf das Grab Heinz Galinskis von einer antisemitischen Tat aus. Die Anzahl antisemitischer Straftaten sei in Berlin im laufenden Jahr um etwa 20 Prozent gestiegen, sagte Werthebach am Sonntag. Wie erklären Sie sich eine solche Steigerung?

Wolfgang Wippermann: Straftaten sind immer schlecht einzuschätzen, auch bei diesem Sprengstoffanschlag kommen verschiedene Täter in Frage. Es gibt auch die geringe Möglichkeit, daß es Araber waren. Das Ansteigen der Zahl der Straftaten selbst hat natürlich mit dem Ansteigen der antisemitischen Urteile und Äußerungen zu tun – und drittens auch mit der Hoffähigmachung des Antisemitismus: Die Tabuschwellen sind gesunken.

Das Jahr 1998 hat sich in der Chronologie als deutlicher Schwerpunkt von antisemitischen Straftaten präsentiert. Was hat es mit dem Jahr 1998 auf sich?

Über den Holocaust wurde in diesem Jahr viel gesprochen. Es wird der Vorwurf geäußert, die Juden würden ihn instrumentalisieren – ein antisemitisches Stereotyp. Und je mehr man darüber redet, insbesondere auch Angriffe wie die auf Herrn Bubis, um so mehr werden mögliche Täter gewissermaßen angeleitet. Anschläge und Einstellungen sind zwei verschiedene Sachen, aber das funktioniert wie zwei kommunizierende Röhren, es gibt die Verbindung.

Sie unterstützen also die Aussage der Tochter Galinskis, Walsers Äußerungen stärkten indirekt die Bereitschaft zu solch einer Tat?

Da muß man sehr vorsichtig sein. Aber die Metapher von Brandstiftung und dem Brandstifter hat mit realen Brandstiftern häufig etwas zu tun.

Ist denn Berlin besonders antisemitisch, oder liegt die Hauptstadt im Bundestrend?

Berlin liegt im Trend. Der Antisemitismus ist noch nicht wie im Kaiserreich oder der Weimarer Republik der kulturelle Code aller, aber er ist dabei, es zu werden. Und hier rächt sich, daß die anderen Varianten des Rassismus nicht hinreichend genug bekämpft wurden. Die Hoffnung, daß es uns gelingt, die antisemitische Einstellung, die von über 40 Prozent in den vierziger Jahren auf etwa 20 Prozent gedrückt wurde, weiter zu reduzieren, die ist vergeblich. Jetzt schlagen die anderen Varianten des Rassismus durch.

Der Antisemitismus nimmt Ihrer Ansicht nach also in der Folge des Rassismus zu?

Daß 60 Prozent gegen Ausländer sind, das ist ja schon der kulturelle Code. Da macht ja keiner was dagegen, eher im Gegenteil, wenn Sie den bisherigen Innensenator Schönbohm betrachten. Die sogenannte Ausländerfeindlichkeit – eigentlich ja nackter Rassismus – ist zum kulturellen Code dieser Gesellschaft geworden. Die Vorstellung, wir könnten die Juden davon ausnehmen, weil sie ja was Besonderes sind, die ist falsch. Allgemeiner Rassismus ergreift notwendigerweise auch den Antisemitismus. Und der wird in allen gesellschaftlichen Schichten stärker, teilweise noch unterderhand, aber teilweise auch schon nicht mehr unterderhand.

Können Sie denn Beispiele dafür nennen, daß sich Antisemitismus in der von Ihnen skizzierten Weise breitmacht?

In diesem Jahr die Diskussionen über das Holocaust-Denkmal, die Vorwürfe gegen Herrn Bubis. Und schon beim „Schwarzbuch des Kommunismus“, das in diesem Jahr durch Europa gereicht wurde, konnte der Autor Stéphane Courtois sagen, die Juden instrumentalisierten den Holocaust. Interview: Barbara Junge