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■ VorlesungskritikOffen und ehrlich

Jetzt ist die „Neue Mitte“ auch im deutschen Wohnzimmer angekommen. Nicht mehr Gottes Segen für „unser deutsches Vaterland“, sondern schlichte Wünsche für ein „glückliches, gesundes und erfolgreiches“ neues Jahr. Nicht mehr dickleibige Lederausgaben deutscher Klassiker im Hintergrund, sondern ein beinahe leeres Bücherregal. Hat Kanzler Gerhard Schröder nur die Kartons noch nicht ausgepackt, oder ist er dem gedruckten Wort – wie Bonner Eingeweihte munkeln – tatsächlich weniger zugetan als der Dicke aus Oggersheim?

Jedenfalls hinderte ihn die sparsame Ausstattung seiner Bibliothek nicht daran, in seiner Neujahrsansprache den Wert der Bildung zu beschwören. Doch ging es dem Neubundeskanzler nicht um geistige, sondern um ganz handfeste materielle Werte. Denn was die „lieben Jugendlichen“ an Schulen und Hochschulen lernen, sollen sie „einsetzen“, um „den Älteren ein sicheres Leben“ zu ermöglichen. Das Ganze nennt Schröder dann einen „Pakt zwischen Jung und Alt“.

Ein Ansinnen, das offenbar auch bei der ARD Anklang findet. Beim Vorgänger hatten die Sender mal die Ansprachen verwechselt, mal eine Weihnachts- statt einer Neujahrsbotschaft angekündigt, mal die Manuskriptschreiber über den Sendetermin im unklaren gelassen und den Kanzler so zu einem zweiten Aufsager genötigt. Bei Schröder hingegen griffen die Fernsehleute in ihre Trickkiste, um die Botschaft des Niedersachsen angemessen zu würdigen. Als Schröder das Wort „Pakt“ aussprach, zoomte sich die Kamera ganz dicht ans Kanzlerantlitz.

Ansonsten blieb die Ansprache in didaktischem Anspruch und filmischer Umsetzung bescheiden. Zehn Minuten lang, von besagtem Zoom abgesehen, eine gänzlich unbewegte Kamera – das ist Steinzeit-TV vom Feinsten und schon deshalb fast wieder sympathisch. Auch Schröder selbst, den Teleprompter stets fest im Blick, gestattet sich nur sparsame Abweichungen von seinem entschlossen eintönigen Gesichtsausdruck. Ab und an ein freundliches Zucken um die Mundwinkel, ein bedeutsames Anheben der Augenbrauen – das war's.

Was er visuell versäumte, suchte Schröder rhetorisch auszugleichen. Daß er alle Konfliktfelder der Innen- und Außenpolitik im Parforceritte zu durchmessen trachtete, dazwischen mehr oder weniger elegante Übergänge einfügend – das gehörte zur Pflichtübung. Daß er Erfolge im nächsten Jahr überzeugender versprechen konnte als der Vorgänger – wen wundert's, für Mißerfolge reichte die Zeit noch nicht.

Doch Kohls Kunst, die große Weltgeschichte mit der eigenen Biographie aufs Feinste zu verweben, wird Schröder nie beherrschen. Welche Aura, wenn Kohl das Wort „Gechischte“ in den Mund nahm! Da wirkten Schröders Versuche, im Wahlkampf seine Herkunft aus kleinsten Verhältnissen zu beschwören, nur noch fade.

Gleichwohl beherzigte Schröder am Silvesterabend die Grundregeln jedes Rhetorik- Seminars und mühte sich, die Zuschauer bei ihren Alltagserfahrungen abzuholen. Der Euro – das ist keine neue Leitwährung, das sind schlicht und einfach drei Buchstaben, die die „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ in ihre Überweisungsformulare eintragen müssen. Bei den Wirtschaftskrisen in Südostasien oder Lateinamerika geht es „nicht nur um nackte Zahlen“, sondern um „Schicksale“ – und, vor allem, um „unsere Möglichkeiten, Produkte in diesen Ländern abzusetzen“.

Das waren offene Worte. So ehrlich wie das leere Bücherregal. Ralph Bollmann

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