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Die Straße macht krank

Rund 3.000 Jugendliche leben ohne festen Wohnsitz in Berlin. Viele von ihnen sind krank, doch aus Angst vor Eltern, Jugendamt und Polizei meiden sie Arztbesuche  ■ Von Martin Kaluza

Allein in Berlin, so schätzt der Verein „Armut in Deutschland“, leben etwa 3.000 Kinder und Jugendliche auf der Straße, ein Zehntel aller Obdachlosen – die Tendenz ist steigend. Krankheiten gehören zu ihrem Alltag, besonders in der kalten Jahreszeit.

Die meisten Straßenkids sind vor Krach und Gewalt in der Familie davongelaufen oder werden von ihren gleichgültigen Eltern völlig vernachlässigt. Andere flüchten wiederum vor übertriebener Fürsorge. Ist der familiäre Halt erst einmal verlorengegangen, verweigern sich die Kids nicht selten der Gesellschaft schlechthin. Aus Angst, die Polizei oder das Jugendamt könnte sie finden und zu den Eltern zurückbringen, wollen sie ihren Aufenthaltsort meist nicht bekanntgeben.

Wie viele Straßenkids es gibt, läßt sich von Sozialarbeitern nur grob schätzen. Sicher ist allenfalls, daß das Leben auf der Straße krank macht. Daß so gut wie alle Straßenkids regelmäßig Drogen konsumieren (vor allem Alkohol, Cannabis und Speed), macht sie nur anfälliger für Krankheiten.

Trotzdem meiden fast alle Straßenkids Arztbesuche, wenn es nur irgend geht. Einerseits fürchten sie die Weitergabe ihrer Daten, andererseits liegt ihre Versicherungskarte meist sowieso bei den Eltern im Schrank. Immerhin, es gibt Hilfsangebote, die sich um die Gesundheitsversorgung der obdachlosen Kinder und Jugendlichen bemühen. Da sind einerseits die Kontaktstellen, in denen Waschgelegenheiten, Lebenshilfe und oft Übernachtungsplätze geboten werden. Andererseits gibt es den direkten Weg zu niedergelassenen Ärzten oder Arztmobilen, die anonym, kostenlos und unbürokratisch behandeln.

Die Kontaktläden sehen ihre Aufgabe vor allem darin, „die Kids zu motivieren, sich zu öffnen“, so Christoph Haaß vom Pfefferwerk in der Schönhauser Allee. „Zu 90 Prozent helfen wir bei familiären und psychischen Problemen; oder einfach bei der Planung der nächsten Zeit.“ Mehr als eine bescheidene medizinische Erstversorgung ist meist nicht drin – Pflaster kleben oder Wunden desinfizieren. Wer ernstere Erkrankungen hat, muß trotzdem zum Arzt.

Die Kontaktstellen vermitteln die Kids dann weiter, zum Beispiel an Barbara Weichler-Wolfgramm, niedergelassene Ärztin in der Kreutziger Straße, Friedrichshain. In der Szene hat es sich inzwischen herumgesprochen, daß sie kostenlos behandelt. In den sechseinhalb Jahren, die sie ihre Praxis betreibt, hat Weichler-Wolfgramm viel Vertrauen aufgebaut. „Sozialarbeiter müssen Berichte über ihre Jugendarbeit abgeben, bei mir hingegen sind die Kids durch die ärztliche Schweigepflicht geschützt. Da können Polizei oder Eltern ruhig kommen, die erfahren hier nichts.“ Bei langwierigen oder kostenintensiven Behandlungen kommt sie zwar nicht umhin, sich von den Krankenkassen bezahlen zu lassen. Das tue aber der Anonymität der Patienten keinen Abbruch. „Zunächst einmal: Fast alle Kinder sind über ihre Eltern krankenversichert. Ich schreibe dann die Eltern oder die Kassen direkt an und bitte um einen Krankenschein. Die sind verpflichtet, ihn mir zu schicken.“ Dann erführen die Kassen zwar von den Erkrankungen, aber der Aufenthaltsort der Patienten müsse nicht preisgegeben werden.

Ein Versorgungsknoten mit direkten Gesundheitsangeboten ist der Bahnhof Zoo. An verschiedenen Tagen stehen hier die Versorgungsmobile unterschiedlichster Träger. Montags (14–16 Uhr), mittwochs (19–22) und donnerstags (14.30–18) der Mobilix-Bus von Fixpunkt, der sich vor allem an jüngere wie ältere Fixer wendet. Dienstags, freitags und samstags (je 16.30–18) kommt die Caritas und behandelt anonym Wohnungslose ohne Krankenversicherung. Der Caritas-Bus richtet sich zwar auch an ältere Wohnungslose. Die sind allerdings, so die Ärztin Elisabeth Rasch, immer seltener anzutreffen: „Sie kennen das: Die Obdachlosen sollen raus aus der Innenstadt, raus aus den Bahnhöfen. Am Zoo bleiben dann die, die schnell laufen können, und das sind meistens die Jugendlichen.“

Ein zweiter Caritas-Bus für Obdachlose aller Altersgruppen, das Arztmobil, fährt regelmäßig neun Suppenküchen und Wärmestuben in verschiedenen Bezirken ab. Theoretisch können sich Straßenkids hier versorgen lassen. Tatsächlich aber wird das Angebot von Minderjährigen kaum wahrgenommen; 1997 waren von insgesamt 1.322 Patienten gerade einmal 35 unter 18. Weichler-Wolfgramm, die auch einmal pro Woche für das Arztmobil arbeitet, umreißt die Probleme: „Ich habe schon Jugendliche gezielt auf dem Alex angesprochen. Nur so sind sie überhaupt zu uns gekommen.“

Daß Sozialarbeiter und Ärzte so schwer an die Straßenkids herankommen, scheint von politischer Seite aus gewollt zu sein. Sowohl Sozialarbeiter als auch Ärzte beklagen, daß die Straßenkids von ihren angestammten – und überschaubaren – Plätzen zunehmend vertrieben werden. Weichler- Wolfgramm: „Wir wissen oft gar nicht mehr, wo wir die Kinder finden sollen. Früher lebten viele in besetzten Häusern und Wagenburgen. Heute fürchte ich, daß viele mit Freiern mitgehen.“

So zieht Weichler-Wolfgramm eine düstere Bilanz. „Obwohl Problembewußtsein und Handlungsbereitschaft da sind, hat das Jugendhilfesystem versagt. Wir haben die Probleme der obdachlosen Jugendlichen nicht lösen können.“

Kontakte: Beratung und Krisenunterkunft im Pfefferwerk, Schönhauser Allee 39b, Mitte (rund um die Uhr), Tel. 44 02 38 20; Kontaktladen für Kinder in Krisenzeiten (Klik), Kleine Hamburger Str. 2, Mitte, Tel. 28 38 43 51; Arztmobil der Caritas: Standorte erfragen unter 486 71 80 oder 0172/307 39 85; Subway, Anlaufstelle für Jungs, die anschaffen gehen: Nollendorfstr. 31, Mo 11–19 Uhr, Di, Do, Fr 14–18 (Fr von 15–17 Arzt im Haus).

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