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Die Idylle in der Platte ist vorbei

Vor 20 Jahren gründete die DDR den Bezirk Marzahn. Damals galten die Plattenbauten als modernster Standard. Inzwischen mußten rund 40.000 Wohnungen saniert werden  ■ Von Jutta Wagemann

Mike Vossmann lächelt stolz. Nein, die eingezogene Kassettendecke, die das kleine Wohnzimmer noch niedriger macht, gehörte nicht zur Standardausrüstung. „Das hat mein Vater selbst gemacht“, erzählt der 20 Jahre alte BWL-Student. Auch die hölzerne Wandverkleidung im Flur fertigte der Vater an. Dabei ist es gar nicht leicht, in der Wohnung den Heimwerker zu spielen. „In die Wände hier“, sagt Mikes Vater und tippt auf die Rauhfasertapete, „kriegen Sie keinen Nagel rein. Das ist Beton.“ Seit 18 Jahren wohnt die Familie in der Wohnung – im elften Stock eines Plattenbaus in Marzahn. Mike Vossmann und seine Eltern gehören zur ersten Mietergeneration des Bezirks, der vor 20 Jahren gegründet wurde.

Seit der Wende sind die Plattenbauten in Verruf geraten. 1980 jedoch war die Familie erleichtert über das Angebot, eine Wohnung in Marzahn mieten zu können. Ihre kleine dunkle Wohnung in Berlin- Mitte wollten sie gern gegen die moderne Wohnung mit Zentralheizung und Warmwasser eintauschen. „Die Wartezeiten waren damals lang“, erinnert sich Mikes Vater. „Ein solches Angebot wie dieses hier“, sagt er und blickt sich in der Wohnung um, „das hätte niemand ausgeschlagen.“

Vor allem junge Familien mit kleinen Kindern zogen in die Marzahner Neubauten. Professoren und Arbeiter, Ärzte und Angestellte wurden „in der Platte“ Nachbarn. Ideologisch paßten der DDR diese „sozialistischen Einheitswohnungen“ allemal besser ins Konzept als renovierte Bürgerhäuser in der Innenstadt.

Nach Marzahn zu ziehen war in Ordnung. Aber in welches Viertel von Marzahn, war nicht egal. „Es war damals schon sicher, daß die Ecke nicht bebaut würde“, sagt Mikes Vater. Der Blick vom Wohnzimmerfenster fällt nicht auf einen Plattenbau derselben Marke, sondern auf Einfamilienhäuser mit Gärten – ein Relikt des alten Dorfes Marzahn. Weiter nördlich, wo die Bauten dicht an dicht stehen, wollte die Familie nicht wohnen. „Da kann ich ja meinem Nachbarn auf den Teller gucken“, regt sich Mike Vossmann auf.

Nicht nur der Ausblick fällt auf eine scheinbar dörfliche Idylle. Auch ihr Leben in Marzahn bis zur Wende schildern Vater und Sohn wie die Erlebnisse einer intakten Dorfgemeinschaft. „Die Wohnung war abends manchmal wie ein Bahnhof“, erzählt Mikes Vater. Nachbarn und Freunde seien ein- und ausgegangen. Die „Hausgemeinschaft“ organisierte Flurfeste und Weihnachtsfeiern. In der Kneipe im Nachbarhaus gab es jedes Jahr eine Fete. „Da waren wir ruckzuck 200 Leute, allein aus diesem Haus.“ Die Hausflure seien sauber gewesen, die Vorgärten gepflegt. „Doch jetzt“, Mikes Vater zuckt resigniert mit den Schultern, „jetzt ist alles anders.“

Das vielfach beschworene Zusammengehörigkeitsgefühl der Mieter ist verschwunden. Erika Kröber, Sprecherin der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (WBG), wundert das überhaupt nicht. „Damals waren wir alle im selben Alter, hatte kleine Kinder und waren auf die Wohnungen angewiesen.“ Fluktuation habe es schon allein mangels Alternativen kaum gegeben. Jetzt wechselten die Mieter häufig, was die Anonymität enorm gesteigert habe. „Heute grüßen die Leute nicht mal mehr im Aufzug“, sagt Mike Vossmann resigniert.

Die Folgen sind unübersehbar: Das große Tableau mit den Klingelschildern wurde seit der Wende schon dreimal zerstört und die Glasscheibe der Eingangstür eingetreten. „Es wird gesprüht und gekokelt“, erzählt der 20jährige, „und das Treppenhaus benutzen wir schon gar nicht.“ Niemand fühle sich mehr für irgend etwas verantwortlich. Die Wohnungsbaugesellschaft versucht, dieser Entwicklung gegenzusteuern. Schließlich sollen sich ihre Mieter in Marzahn wohlfühlen – und nicht wegziehen. Doch auch Conciergen oder Mieterbeiräte können das zum Teil verordnete Gemeinschaftsgefühl von einst nicht wiederherstellen. Viele seien jetzt auch beruflich so eingespannt, meint Kröber, daß sie abends ihre Ruhe haben wollten, anstatt mit den Nachbarn zu feiern.

Dennoch: Mike Vossmann ist jederzeit bereit, Marzahn zu verteidigen. „Wir haben eine schöne Wohnung, sind schnell im Grünen und haben alles im Bezirk, was man zum Leben braucht.“ In jedem größeren Block gebe es einen kleinen Supermarkt und einen Spielplatz, Kneipen und Kinos, Sportvereine, dazu Kindergärten und Schulen in ausreichender Zahl. Ein geschmackvoll eingerichtetes Café oder ein gutes Restaurant sucht man in Marzahn allerdings vergeblich.

40.000 Wohnungen sind mittlerweile saniert. Die Häuserblocks leuchten in hellen Farben, die häßlichen breiten Fugen zwischen den Platten sind geschickt kaschiert. „Ich komme immer wieder gerne hierher“, versichert Mike Vossmann. Den Studenten hat es mittlerweile nach Chemnitz verschlagen. Dort wohnt er in einer sanierten Altbauwohnung.

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