: Der Stein der Weisen
Der Schriftsteller Douglas Coupland schwört ebenso auf sie wie Norman Mailer oder Jostein Gaarders Philosophieheldin Sofie: Legosteine. Vor fünfzig Jahren wurden die ersten Steckelemente aus Dänemark in die Welt gesetzt. Lego ist das weltweit populärste Spielmaterial für Kinder. Eine Erfolgsgeschichte ■ von Volker Weidermann
Ein Legostein ist eigentlich nichts. Viele Legosteine können alles sein. Die Dresdner Frauenkirche zum Beispiel oder ein Konzentrationslager, eine fliegende Giraffe oder die Freiheitsstatue. Ist alles schon gebaut worden. Und noch viel mehr. Lego ist ein Weltspielzeug.
Die ganze Welt kann man in Lego bauen. Diese – oder eine andere. Eine bessere natürlich. Alles mit einem kleinen Stein. Gut, nicht mit einem. Aber schon mit sechs Achtknopflegosteinen ergeben sich 102.981.500 Kombinationsmöglichkeiten. Und das bereits, wenn alle die gleiche Farbe haben. Kombiniert man noch verschiedene Farben, sprengt die Anzahl der Möglichkeiten unser Zahlensystem.
Vier Billionen Legosteine hat der dänische Familienbetrieb während der vergangenen fünfzig Jahre unter die Kinder der Welt gebracht. Die Welt spielt Lego. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, daß die Welt schon Lego spricht. Douglas Coupland zum Beispiel. Er sagt: „Die universale Sprache der Welt heißt weder Englisch noch Microsoft, sondern Lego.“ Der kanadische Autor, der mit seinem Roman „Generation X“ zum Chronisten der innovativ-flexiblen Microsoftgeneration wurde, ist einer von vielen Legofans. Aber nur wenige messen den Steinchen eine so große Bedeutung bei wie er. Coupland meint: „Lego hat die Welt in demselben Maße verändert wie die Buchstaben des Alphabets.“
Couplands Welt ist eine Computerwelt. Und diese Computerwelt ist eine Legowelt, sagt er. Das Denken der Computermenschen unserer Zeit sei untrennbar mit dem bunten Konstruktionsspielzeug verbunden. „Alle Computertechniker“, heißt es in seinem Roman „Microsklaven“, „beschäftigten sich in ihrer Kindheit sehr viel mit Lego. Lego war der gemeinsame Nenner dieser Kinder.“
Was aber macht aus dem Legokind einen Computermenschen? Erstens die Isolation beim Spielen: Lego ist kein Gemeinschaftsspielzeug. Eher was für einsame Bastler. Und auch das Denken der kleinen Konstrukteure wird durch verstärkte Legobauerei für den Rest des Lebens geprägt: „Nur sie können sich komplexe Systeme vorstellen“, meint Coupland, „sie denken dreidimensional, modular, systemisch, binär.“ Die idealen kommenden Computerspezialisten. Und seit kurzem werden Legokinder noch viel direkter auf eine spätere EDV-Karriere vorbereitet. Das Zauberwort dazu heißt RCX – der neue, denkende Legostein. Fünfzehn Jahre haben die dänischen Spielzeugtechniker an dieser Kinderzimmerrevolution getüftelt. Das Ergebnis ist unscheinbar. Ein gelber Quader, klein wie eine Zigarettenschachtel, der kaum mehr enthält als Batterien und einen Microchip. Er ist das Herz der neuen intelligenten Legowelt.
Mit dessen Hilfe läßt sich jetzt kinderleicht der eigene kleine Heimroboter bauen. Am eigenen PC programmiert man dem schlauen Spielzeug die gewünschten Funktionen ein, mit dem Joystick hat man es ständig unter Kontrolle. Der Legokonzern setzt auf die Einführung dieses neuen Computerspielzeugs große Hoffnungen. Nicht nur weil mit dem neuen Stein millionenschwere Investitionen verbunden waren, sondern auch weil der Spielzeughersteller Mitte der neunziger Jahre zum ersten Mal in einer größeren Krise steckte und starke Umsatzeinbußen hinnehmen mußte.
Der Grund dafür liegt nicht nur in der modernen Segamegadrive- und Playstationkonkurrenz, sondern auch im eigenen Qualitätsprodukt begründet: Legosteine gehen nicht kaputt. Seit nunmehr drei Generationen werden die bunten Klötze weitervererbt und sehen meist noch so frisch aus wie am ersten Tag. Da ist der Markt irgendwann einfach gesättigt. Mit dem Legorobotstein hofft man, alte Käufer neu zu begeistern.
Scheinbar mit Erfolg. Wie wild werden in den Kinderzimmern jetzt Aufräumhilfsfahrzeuge gebaut und Katzenfütterer. Über Hausaufgabenmacher wird noch gebrütet.
In Billund, der Heimatstadt des Legokonzerns im dänischen Jütland, freut man sich immer sehr über das solchermaßen innovative Kind und verteilt für besonders findige Projekte auch mal größere Mengen Baumaterial.
Doch wenn Erwachsene ins Bauen kommen, ist man bei Lego nicht immer unbedingt so glücklich: Vor drei Jahren etwa wandte sich der polnische Künstler Zbigniew Libera mit der Bitte um eine größere Menge Steine an die Legoverantwortlichen, um ein Hospitalmodell zu bauen. Bereitwillig folgte man seiner Bitte, doch Herr Libera änderte seine Pläne und baute ein Konzentrationslager, das er dann, recht authentisch im Legostil verpackt, in polnischen Galerien ausstellte.
Er habe Legosteine für sein Projekt gewählt, erläuterte Libera, „weil es ein sehr rationales System ist, und das waren die Konzentrationslager auch.“ Das Jüdische Museum in New York fand das so einleuchtend, daß es dem Künstler einen Bausatz abkaufte. Doch die Legoverantwortlichen waren von der Kunstaktion nicht so begeistert und ließen dem Künstler durch ihre Anwälte dringend raten, seine Arbeit nie wieder auszustellen. Alles eine Frage des Images. Denn mit dem Wort Lego soll man Positives verbinden, Möglichkeiten einer schönen neuen Welt, nicht die Schrecken vergangener Zeiten.
Der Schriftsteller Norman Mailer wäre da eher ein Kandidat, der sich Hoffnung auf Legoförderung machen könnte. 1965 lud sich der Schriftsteller drei Wochen lang Freunde in sein New Yorker Domizil, um mit ihnen „Vertical City“ zu bauen – eine Riesenlegostadt, bestehend aus 12.000 dänischen Steinchen. Die Mailersiedlung steht heute noch im riesigen Wohnzimmer des Schriftstellers, der vor kurzem in einem Interview mit dem New Yorker erklärte: „In meiner Stadt gibt es zwölftausend Wohnungen. Ganz oben in den Penthäusern hausen die Philosophen. In den weißen Domizilen wohnen die Callgirls, in den schwarzen die kleinen Leute.“ Er habe sich wie ein großer Le Corbusier gefühlt, meint Mailer glücklich heute noch.
Doch eigentlich sind die Steine ja für den kleinen Menschen gedacht. Für Kinder, die was lernen wollen – Edutainment heißt das in der Firmenpromosprache, oder auch: Spaß haben und trotzdem etwas schlauer werden. Das ist das Legoprogramm.
Am schönsten hat diesen Lerneffekt Jostein Gaarder in seinem populären Philosophieroman „Sofies Welt“ beschrieben: Hier erfährt Sofie mit Hilfe von Legosteinen, was die Welt zusammenhält: „Wenn ein Körper – zum Beispiel ein Baum oder ein Tier – stirbt und in Auflösung übergeht“, so schildert es ihr Philosophielehrer, „werden seine Atome verstreut und können aufs neue in neuen Körpern verwendet werden. Denn die Atome verschwinden zwar im Raum, haben aber verschiedene Haken und Ösen und werden deshalb immer wieder zu den Dingen zusammengehalten, die wir um uns herum sehen.“
Voilà le Legoprinzip: Hier der Stein als scheinbar unteilbarer, ewig haltbarer Grundbestandteil der Welt mit unendlichen Weltbaumöglichkeiten. Auf der anderen Seite die Zerstörungsoption, die uns aber gleichzeitig immer wieder einen neuen Anfang ermöglicht und einen Pinguin als Zebra wiederauferstehen lassen kann. Oder als Monster. Legosteine können alles werden, wenn ein kleiner Konstrukteur oder eine kleine Konstrukteurin es will.
Für das norwegische Kind Sofie ist Lego das genialste Spielzeug der Welt, für einen notorischen Nörgler aus Couplands „Microsklaven“ jedoch Teufelszeug, das den Kindern, die mit Lego gespielt haben, das Bild einer sterilen, austauschbar modularen Baukastenwelt einbrennt. Einer Welt, die keine Gerüche, keine Exkremente und keine Abweichungen von gesellschaftlichen Normen kennt.
All diese Optionen stecken in dem kleinen Noppenstein aus Billund. Ein sehr philosophischer Stein, der zum Guten und zum Schlechten unendlich viele Möglichkeiten in sich birgt. Ein Stein für weise Kinder.
Volker Weidermann, 29, Redakteur im taz-mag und in der Kulturredaktion, lebt in Berlin. Seinen ersten Legostein bekam er im Alter von drei Jahren von seiner älteren Schwester ausgeliehen
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