An den Orten der Verbrechen

In Berlin erinnern bereits jetzt zahlreiche Denkmäler an die Opfer der Nationalsozialisten. Doch viele werden von den Berlinern im Alltag gar nicht als solche wahrgenommen  ■ Von Gereon Asmuth

Ein Tisch und zwei Stühle. Der eine ordentlich fast unter die Tischplatte geschoben, der andere umgestürzt auf dem Boden. Unverrückbar eingelassen in eine Bronzeplatte, steht das Ensemble aus Metall auf dem Koppenplatz in Berlin-Mitte. „Jedesmal, wenn ich vorbeikomme, reizt es mich, den Stuhl aufzuheben“, sagt eine 36jährige Anwohnerin. Offenbar ist sie nicht die einzige: das Bein des gekippten Stuhls ist sichtbar abgriffen. „Hier scheint etwas zerbrochen, die Kommunikation zerstört“, meint sie und trifft damit Intention der Skulptur recht gut. Doch daß es an die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der hiesigen Spandauer Vorstadt erinnern soll, wußte sie nicht.

„Häufig sitzen Jugendliche am Tisch und lassen ihre Bierflaschen stehen“, ärgert sich ein 64jähriger pensionierter Wirtschaftskaufmann, der tatsächlich sehr überzeugt ist von der Skulptur: „Man sieht, da muß etwas passiert sein, da ist jemand plötzlich weggeholt worden.“

Das Denkmal war 1988 noch vom Magistrat, der Ost-Berliner Stadtregierung, ausgelobt worden. Dieter Klein, heute kulturpolitischer Sprecher der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus, war 1988 Leiter des Büros für architekturbezogene Kunst, das den offenen Wettbewerb betreute. Aus 72 Entwürfen entschied sich die mit Künstlern und Vertretern der Jüdischen Gemeinde besetzten Jury mit knapper Mehrheit für den „Verlassenen Raum“ des Bildhauers Karl Biedermann. „Uns ging es um das Sinnliche“, erklärt Klein heute, warum der Entwurf gewann, der auf den ersten Blick nicht direkt zum Thema führt. Nur auf den zweiten Platz kam dagegen der Vorschlag eines großen Davidsterns. „Da hätten Passanten schon von weitem nur ,Aha!‘ gedacht und wären weitergegangen.“

Der Bildhauer Biedermann sagt, er wollte „mit einer möglichst allgemeinen Metapher Neugier wecken“. Ob nun Heimatvertreibene, bosnische Flüchtlinge oder Bürger der ehemaligen DDR, viele Menschen, die ähnliches erlebt hätten, könnten ihren eigenen Zugang zum Denkmal finden. Damit er nicht unverstanden bleibt, integrierte er auf Anregung der Jury ein Gedicht der jüdischen Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, die 1942 nach Schweden fliehen konnte: O die Wohnungen des Todes / Einladend hergerichtet / Für den Wirt des Hauses, der sonst nur Gast war [...] O ihr Schornsteine / O ihr Finger / Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!.

Das Denkmal am Koppenplatz ist nicht das einzige dieser Art in Berlin. In ihrem „Wegweiser zu Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus“ verzeichnet die Landezentrale für politische Bildung nur eine Auswahl und listet dennoch 62 Denkmäler auf. Sie erinnern meist an historischen Orten an Sammellager, Einzelpersonen oder spezielle Ereignisse wie die Bücherverbrennung auf dem August-Bebel-Platz. Bei den meisten ist durch Form oder Inschriften der Anlaß der Plazierung leicht erkennbar. Dennoch bedeutet das nicht unbedingt, daß die Bevölkerung sie annimmt oder versteht.

Direkt am S-Bahnhof Steglitz steht seit 1995 auf dem Hermann- Ehlers-Platz eine neun Meter lange und dreieinhalb Meter hohe Spiegelwand. Auf ihr sind die Namen von 2.000 jüdischen Opfern der Nazis verzeichnet, dazu unter anderem die Geschichte einer kleinen Hinterhofsynagoge, die sich in der Nähe befand.

Vor der Aufstellung des „Denkzeichens“ 1995 hatte es heftige Debatten gegeben. Die Steglitzer Bezirksverordnetenversammlung hatte sich mit Stimmen von CDU, FDP und Republikaner gegen den Bau ausgesprochen. Erst als der damalige Bausenator Wolfgang Nagel (SDP) die Planung an sich zog, konnte der Entwurf der Berliner Architekten Wolfgang Görsche und Joachim von Rosenberg realisiert werden.

Inzwischen ist es ruhig geworden um das Denkmal. Spuren im Schnee weisen daraufhin, daß heute niemand stehengeblieben ist. Eine Frau wirft im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf die Wand. „Ich habe mich nur kurz angeguckt“, erklärt die 39jährige. Die glatte Oberfläche sei ein „guter Spiegel“. Als Mahnmal habe sie die Wand gar nicht wahrgenommen, auch wenn sie es „an und für sich wichtig findet“: „Wir haben das nun mal gemacht“, meint sie. Kurz darauf knipst sich ein junges Paar gegenseitig vor der Spiegelwand. „Das sah so schön aus mit dem Schnee“, erklärt sie.

Nur einer läßt sich an diesem Abend finden, der regelmäßigen Umgang mit der Spiegelwand hat. „Ich habe schon öfters Blumen hingelegt“, sagt ein 72jähriger Rentner. „Gucken Sie sich diese Namen an“, fordert er, „da könnte jeder von uns drauf stehen, in einem anderen Land vielleicht, oder mit einer anderen Religion. Egal ob Jude oder anderes, Menschenverfolgung, das ist der entscheidende Punkt.“