: Die DDR wieder zusammenpuzzeln
In der Zirndorfer Außenstelle der Gauck-Behörde müht sich die Projektgruppe Rekonstruktion um Tonnen zerrissener Stasi-Akten. Mit einem Computerprogramm soll nun die Arbeit der Berufspuzzler erleichtert werden ■ Von Markus Völker
Berlin (taz) – Warum Sisyphus dazu verdammt war, in der Unterwelt einen ständig herabrollenden Felsblock wieder und wieder auf einen Berg zu wälzen, ist unklar. Warum hingegen die Außenstellenmitarbeiter der Gauck-Behörde im fränkischen Zirndorf an einem Endlospuzzle arbeiten, bedarf keiner Deutung.
In panischer Eile haben Mitarbeiter der Stasi in der Wendezeit Akten vernichtet. Wenn die Reißwölfe heiß liefen, wurden die brisanten Dokumente mit der Hand zerrissen. Die Schredder müssen reihenweise ihren Dienst versagt haben. In Müllsäcken verpackt wurden Tonnen zerrissener Akten in den Stasi-Zentralen sichergestellt. 41 Mitarbeiter haben in Zirndorf diese Hinterlassenschaft, das weltweit größte Puzzle, zusammenzufügen. Ein Computerprogramm läßt ein Ende der Sisyphusarbeit wieder in Sicht kommen.
„Allein 17.000 Säcke, vollgestopft mit zerrissenem Papier, mit Knäueln von abgewickelten Tonbändern und Filmen, mit zerkleinerten Fotos und Bildnegativen, fanden Bürgerrechtler bei der Besetzung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße“, blickt Rainer Raillard zurück. Er ist Archivar und leitet die Projektgruppe Rekonstruktion in Zirndorf. Anfangs hat er sich mit einer Handvoll Beamten des Bundesgrenzschutzes über die Säcke hergemacht. Die Arbeitsweise ist mittlerweile professioneller geworden. Trotzdem würden die Berufspuzzler „mindestens 375 Jahre für die Rekonstruktion brauchen“, meint Raillard und klingt dabei gar nicht resignativ. „Die Leute glauben immer: Das ist doch eine Arbeit für jemanden, der Mutter und Vater erschlagen hat. Aber das ist nicht so, unsere Mitarbeiter sind sehr motiviert. Jede neue Akte ist ein Erfolg für uns.“
Die Motivation dürfte weiter steigen. Im März startet ein Pilotprojekt, bei dem drei Unternehmen ihre Software an entsprechendem Material testen. Siemens, die rheinland-pfälzische Firma SER und ein Fraunhofer-Institut bewerben sich um den Auftrag.
„Mit unserer Lösung ist in weniger als fünf Jahren alles zusammengefügt“, glaubt SER-Chef Werner Voegeli. Nach seiner Berechnung bräuchten die Zirndorfer sogar 700 Jahre für ihre Rekonstruktionsarbeit und schlußfolgert deshalb: „Entweder, die kaufen unser Programm, oder sie schmeißen die Schnipsel weg – alles andere wäre sinnlos.“
Voegelis Programm sucht nicht die gedruckten Informationen auf den Papierfetzen ab und fügt die Fragmente nach semantischen Inhalten zusammen, sondern untersucht nur die Rißkanten. „Jeder Papierriß enthält einmalige Merkmale, und zu jedem gibt es ein Gegenstück – wie beim genetischen Fingerabdruck“, erklärt Voegeli. Auf einem Fließband sollen die vorsortierten Schnipsel durch leistungsstarke Scanner laufen. Auf dem Bildschirm fügen sich dann die Details zum Ganzen.
„Ohne die Erfahrung der Gauck-Leute funktioniert aber auch das beste Computersystem nicht“, meint Wolfgang Jakob von Siemens Business Services. „Die Rißkanten werden wohl nicht reichen.“ Sogenannte Deskriptoren wie Textinhalte, Schrifttypen und fortlaufende Seitenzahlen müßten miteinbezogen werden. Jakob bremst die Erwartungen an das Projekt: „Nicht jeder Schnipsel ist so eindeutig wie ein Fingerabdruck.“ Und bei dieser Aufgabe mache auch das beste Computerprogramm den Menschen nicht überflüssig, im Gegenteil.
„Bei einer DIN-A-5-Seite, die aus 98 Kleinteilen – das war der bisherige Höhepunkt – von uns wieder zusammengebastelt worden ist“, mutmaßt Raillard, „dürfte jede Maschine versagen.“ Die Firmenvertreter seien vor Ort gewesen, aber Voegelis Programm könne bisher nur eine Seite wiederherstellen, die in nicht mehr als zwölf Stücke gerissen wurde. Vor anspruchsvolleren Aufgaben versage die Technik.
Für Johann Legner, Sprecher der Gauck-Behörde, gibt es neben der noch unausgereiften Technik ein weiteres Problem – die Finanzierung. „Die Kosten müssen in Relation zur Sache stehen. Wenn das pro Blatt eine Mark kostet, ist das sicher nicht finanzierbar.“ Zudem müssen die 180 Kilometer Akten, die in den Archiven der Gauck-Behörde lagern, endlich in ein elektronisches Archiv überführt werden: „Kein Mensch überblickt mehr den Wust an Dokumenten.“ Trotzdem möchte Legner die Diskussion nicht auf die Finanzen konzentrieren: „Man kann da nicht nur unter Einsparungsgesichtspunkten zu Werke gehen, der Zugewinn an zeitgeschichtlich wertvoller Information ist bei jedem Fund enorm.“
Das sieht Raillard genauso. Fast schwärmerisch gibt der Archivar zu bedenken: „Wann bricht schon mal ein Staat zusammen, und wann hat man schon mal Gelegenheit, die Akten der Staatssicherheit dieses Landes zu bearbeiten.“ Bei aller Aussichtslosigkeit des Unterfangens, müde sind die Zirndorfer offenbar noch nicht.
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