: Der Weg zur zivilen Nation
Vor fünfzig Jahren, am 23. Mai 1949, wurde das Grundgesetz verkündet – der Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschland. Der Nachfolgestaat des NS-Mörderregimes integrierte zunächst die alten braunen Eliten. Warum heute trotzdem von einem neuen, demokratischen und zivilen Deutschland gesprochen werden kann, bilanziert in vier Brüchen ■ Micha Brumlik
Erster Bruch: Kriegsbedingte Mobilität und institutionelle Verdrängung. Vier Jahre nach der Kapitulation von Nazideutschland im Mai 1945 schienen die Vorzeichen für eine demokratische Erneuerung Deutschlands eher ungünstig. Die Städte waren zerbombt, der Wohnungsbestand war fast zur Hälfte zerstört, die Wirtschaft lag bis auf den Schwarzmarkt darnieder, Hunderttausende von Soldaten waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, etwa sieben Millionen Flüchtlinge und Vertriebene drängten nach Westdeutschland.
Die ersten Nachkriegsjahre waren durch Hunger und Elend geprägt. Zugleich war eine demographische und soziale Revolution festzustellen. Bombenkrieg, Vertreibung und der Verlust der Ostgebiete hatten die schon während der NS-Zeit veränderte traditionelle Sozialstruktur Deutschlands aufgelöst. Mit der polnischen und sowjetischen Annexion der Ostgebiete verlor der demokratiefeindliche Junkerstand seine soziale Basis. Mit der Einweisung von Flüchtlingen in westdeutsche Gemeinden wurden die Grenzen zwischen religiösen und Klassenmilieus aufgesprengt und eine bisher unbekannte soziale Mobilität Wirklichkeit.
Damals wandelte sich die deutsche Gesellschaft kulturell – nicht ökonomisch – von der Klassen- zur nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Nicht zuletzt Tod und Gefangenschaft eines Großteils der männlichen Bevölkerung ließen bis Mitte der fünfziger Jahre eine Art Matriarchat des Alltags entstehen.
Es waren Frauen – Mitläuferinnen, Täterinnen auch sie –, die die zerstörten Städte wieder aufbauten, die Familien zusammenhielten und zudem einer noch verschämten sexuellen Revolution den Weg bahnten: Die Abwesenheit der Ehegatten wurde mit den Männern, die es noch gab, in Ehen ohne Trauschein, sogenannten „Bratkartoffelverhältnissen“ oder „Onkelehen“, überbrückt.
Gewiß wäre der zunächst nur wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik ohne die Randbedingungen des Kalten Krieges, ohne Marshallplan und Währungsreform, also ohne US-Wiederaufbauhilfe und eine neue, harte D-Mark, kaum möglich gewesen. Aber aus einem Volk von Mitläufern, Mördern und Zuschauern, einem Volk, das mehrheitlich in vereinter Anstrengung ganz Europa einschließlich des eigenen Landes in Schutt und Asche gelegt hatte, wird nicht nur einer schnellen Mark wegen zu einer Nation von Musterdemokraten.
Wesentlich für die Stabilität der frühen Bundesrepublik war die autoritär-obrigkeitsstaatliche Haltung der überlebenden, oberflächlich gewandelten nationalsozialistischen und deutsch-nationalen Führungsschichten. Die Frühgeschichte der Bundesrepublik zeichnet sich dadurch aus, daß die unmittelbar nach dem Krieg begonnene, ohnehin nur halbherzige Entnazifizierung allmählich versandete und die früheren NS-Eliten in Staat und Gesellschaft wieder das Sagen bekamen: in der Justiz, im Beamten- und Verwaltungsapparat, in Ärzte- und Wissenschaft, ohnehin in der Wirtschaft, ja sogar in der protestantischen Geistlichkeit.
Die Debatte um Wiedereinstellung und Entschädigung nationalsozialistisch belasteter Beamter und Wehrmachtsangehöriger, ja sogar von Gestapo-Beamten, die nach Kriegsende auf Geheiß der Alliierten aus dem Staatsdienst entlassen wurden, wurde zum Hauptproblem der Innenpolitik. Das schon 1951 verabschiedete „131er“-Gesetz sah die Rehabilitation und Wiedereingliederung von mehr als vierhunderttausend ehemaligen Nationalsozialisten in den öffentlichen Dienst vor. In den westdeutschen Parteien herrschte damals – von der noch legalen KPD über die SPD und die damals ohnehin deutschnationale FDP bis zur Union – die Überzeugung vor, daß der Wiederaufbau nicht gegen den einst nationalsozialistischen Teil der Bevölkerung zu betreiben sei.
Aus dieser Überzeugung heraus erklärt sich auch, daß – Sinnbild für eine ganze Generation – der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer, der katholische und durchaus antinazistische ehemalige Oberbürgermeister von Köln, einen Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Karl Globke, in sein Kabinett holte. Globke war weder der erste noch der einzige Beteiligte am Holocaust, der eine bedeutende Position in der Regierung einnahm. Theodor Oberländer, seit 1953 Bundesvertriebenenminister, mußte 1960 von seinem Amt zurücktreten, weil nachgewiesen wurde, daß das von ihm befehligte Wehrmachtsbataillon „Nachtigall“ im Juni 1941 Teile der Lemberger Zivilbevölkerung massakriert und Pogrome geschürt hatte, denen Tausende von Juden zum Opfer fielen. Noch Anfang der achtziger Jahre tat Oberländer sich als Erstunterzeichner des rassistischen „Heidelberger Manifests“ hervor. Als er im vorigen Jahr starb, ehrte ihn die christliberale Bundesregierung noch mit einer großen Todesanzeige.
Der bundesdeutschen Gesellschaft der ersten Jahre gehörten – wie die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich später feststellten – Millionen von Menschen an, die es nicht vermochten, ihren geliebten Führer Adolf Hitler zu betrauern und sich deshalb rastlos in Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Konsum- und Freßwelle stürzten. In Hugo Hartungs Roman „Wir Wunderkinder“, der später erfolgreich verfilmt wurde, wird diese Geschichte mit melancholischem Humor erzählt.
Die bundesdeutsche Gesellschaft der fünfziger und frühen sechziger Jahre: Haben die Menschen, die ihr angehörten, ihre nationalsozialistische Vergangenheit verdrängt oder sie nicht vielmehr – wie der konservative Philosoph Hermann Lübbe 1983 vermutete – ganz bewußt „kommunikativ“, also taktvoll beschwiegen? War also der Verzicht auf Gerechtigkeit und Sühne der notwendige Preis für eine im Windschatten des Kalten Krieges gehegte Stabilität, die später eine gelebte demokratische Kultur ermöglichte? Wie verläßlich ist eine Demokratie, die nur auf Konformismus, die Leugnung eines Menschheitsverbrechens sowie materiellen Wohlstand gegründet werden konnte?
Zweiter Bruch: Sozialstaat, Protest und demokratische Kulturrevolution. Diese Zweifel bewegten all jene, die mit Adenauers Kurs der Wiederbewaffnung im Rahmen der Nato und der europäischen Integration mit den 1957 geschlossenen Römischen Verträgen begann, nicht einverstanden waren. Im Protest gegen die Wiederbewaffnung verband sich aufrichtiger Pazifismus mit massiven Sympathien für Sowjetunion und DDR, begleitet von der Furcht, durch Eingliederung in den Westen die Einheit der Nation zu verspielen. Die ersten Proteste gegen die Remilitarisierung kamen entsprechend aus der national-neutralistischen Rechten mindestens so massiv wie aus der prokommunistischen Linken, wobei die evangelische Kirche hier bis weit in die achtziger Jahre – in der damaligen Friedensbewegung – eine bedeutende Scharnierfunktion einnahm.
Der Kalte Krieg machte die Bundesrepublik zum östlichen Frontstaat des Westens. Adenauers Credo „Freiheit vor Einheit“ stieß zumal bei der SPD und ihrem ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher auf heftigen Widerstand. Bis weit in die sechziger Jahre ließ sich der aus etlichen Quellen gespeiste Protest jedoch durch einen vor allem von der Union aufgebauten Sozialstaat, verbunden mit einer scheinbar unendlichen Konjunktur und einer nahe an die Vollbeschäftigung reichenden Arbeitsmarktlage auffangen.
Es waren CDU und CSU, die die sozialstaatlichen Impulse des deutschen Obrigkeitsstaates seit Bismarck mit wirtschaftsliberalen Impulsen zur „sozialen Marktwirtschaft“, zum „Rheinischen Kapitalismus“ verschmolzen – eine Politik, für die oft der Name des von 1949 bis 1963 zunächst als Wirtschaftsminister, von 1963 bis 1966 als Bundeskanzler amtierenden Ludwig Erhard steht. Die 1957 im Sinne des Generationenvertrages eingeführte „dynamische Rente“ sowie das 1961 mit dem Bundessozialhilfegesetz garantierte Recht auf Sozialhilfe schufen die Basis für eine Ökonomie, in der das individuelle Überleben am Arbeitsmarkt nicht mehr alles zu sein schien.
Daß der damals ausgebaute Sozialstaat noch immer auf der Fiktion einer vor allem vom männlichen Normalverdiener getragenen Familie beruhte, in der Tätigkeiten wie Kinderaufzucht und Unterhalt des Hauptverdieners, also die unentgeltliche Arbeit von Frauen, keine Rolle spielten, steht auf einem anderen Blatt und ist ein wesentlicher Grund für die gegenwärtige Krise des Sozialstaats. Die Hochkonjunktur jener Jahre jedenfalls motivierte die Wirtschaft, den Mangel an Arbeitskräften durch das Anwerben von ausländischen Arbeitern aus dem Mittelmeerraum – damals hießen sie noch „Gastarbeiter“ – auszugleichen. Schlager-Evergreens wie „Zwei kleine Italiener“ erinnern daran. Über die Folgen des Umstandes, daß man „Arbeitskräfte gerufen hatte, jedoch Menschen gekommen waren“ (Max Frisch), machte sich damals niemand Gedanken.
Die Binsenwahrheit – ihre Triftigkeit hat sich gerade an der Asienkrise des Jahres 1998 erwiesen –, daß eine wirtschaftliche ohne eine kulturelle Modernisierung nicht möglich ist, erklärt die weitere Entwicklung der Bundesrepublik. Mitte der sechziger Jahre befand sich eine Generation an höheren Schulen und Universitäten, die Krieg und Zusammenbruch nur noch als Kinder erlebt und – anders als die 1930 und früher Geborenen – den Nationalsozialismus auch nicht mehr als junge Soldaten oder Flakhelfer erlebt hatten.
Die seit 1949 im Bundestag oppositionelle SPD hatte sich seit Ende der fünfziger Jahre – Stichwort: Godesberg – von einer klassischen Arbeiterpartei zu einer reformistischen Arbeitnehmerpartei entwickelt. Gesellschaftliche Ungleichheiten wollte sie nicht mehr klassenkämpferisch, sondern über betriebliche Mitspracherechte für Arbeitnehmer und eine ohnehin nötige Bildungsreform abbauen.
In den sechziger Jahren begannen schließlich auch in der Bundesrepublik Strafverfahren gegen NS-Verbrecher – beginnend mit dem vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in die Wege geleiteten großen Frankfurter Auschwitzprozeß (1963 bis 1965). Aktualisiert wurde damit das während der Wirtschaftswunderzeit gemiedene Thema der Beteiligung der Eltern am Nationalsozialismus. Verdrängung sollte hinfort nicht mehr herrschen – das vor allem war das Anliegen der Kinder und Enkel der NS-Generation.
Sie waren es, die die Kulturrevolution der sechziger Jahre anschoben. Mit dem Muff und der klammen Gemütlichkeit der Wiederaufbaujahre wollten sie nichts zu schaffen haben. Im noch jungen Fernsehen sahen sie: Auch in anderen Teilen der Welt rebelliert die Jugend. So kristallisierte sich jener Erfahrungs- und Verhaltensmix heraus, der nicht nur in der Bundesrepublik eine Reihe von Studenten- und Jugendrevolten von Berkeley bis Paris instrumentieren sollte. Hierzu gehören die Aufnahmen vom Krieg der USA in Vietnam, eine oft aufrührerische Popmusik – etwa die der Beatles oder Bob Dylans – und nicht zuletzt die Erfindung der Antibabypille, die die sexuelle Revolution, also immerwährende heterosexuelle Promiskuität verhieß. Zu Ikonen jener Jahre mitsamt ihren Theorien wurden der betuliche Sexualaufklärer Oswalt Kolle, der im bolivianischen Urwald getötete Revolutionär Che Guevara, aber auch der 1933 aus Deutschland vertriebene, in Kalifornien lehrende freudomarxistische Philosoph Herbert Marcuse.
Die antiautoritäre Revolte brachte Figuren wie den von einem verhetzten Westberliner angeschossenen, den Spätfolgen des Attentats erlegenen charismatischen Rudi Dutschke sowie den bei einem Autounfall ums Leben gekommenen SDS- Theoretiker Hans Jürgen Krahl hervor.
Von wirklich nachhaltiger Bedeutung war jedoch die im noch patriarchalischen SDS entstehende autonome Frauenbewegung, die die herkömmlichen Vorstellungen sozialistischer Revolution und eines auf den Arbeitnehmer zugeschnittenen Sozialstaats ebenso in Frage stellte, wie sie die Benachteiligungen von Frauen – zentrales Stichwort: Paragraph 218 – auf die Tagesordnung setzte. Die feministische Publizistin Alice Schwarzer hat dieser Bewegung wie keine andere ihr Bild in der Öffentlichkeit gegeben.
Nur zehn Jahre vergingen zwischen 1967, als der Student Benno Ohnesorg während einer Berliner Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen wurde, und 1977, als die Journalistin Marie Ulrike Meinhof, die sich dem terroristischen Untergrund angeschlossen hatte, im Stammheimer Hochsicherheitstrakt wohl durch Suizid zu Tode kam. In dieser Dekade übernahm die SPD mit der inzwischen sozialliberalen FDP und dem Emigranten Willy Brandt an der Spitze die Regierung.
Die sozialliberale Koalition setzte in Bund und Ländern eine Bildungsreform in Gang, die neben einer neuen Politik gegenüber den Staaten des Sowjetblocks, einer Politik, die die Verhärtungen des Kalten Krieges lockern sollte, einem neuen, mehr Arbeitnehmerrechte garantierenden Betriebsverfassungs- sowie einem auf das Schuldprinzip verzichtenden Scheidungsrecht als bleibende Leistung gelten kann. Was die CDU/CSU an sozialstaatlicher Inklusion durchgesetzt hatte, fand jetzt seine bildungspolitische Ergänzung: Bildung war nun nicht mehr stark an Klassenprivilegien gebunden.
Wo vor der Bildungsreform nur fünf Prozent des Jahrgangs die Hochschulreife erwarben, sind es inzwischen etwa vierzig Prozent. Parallel dazu führten antiautoritäre Erziehung, Kinderläden und unaufhörliche Diskussionen erst in den Mittelschichten, dann zunehmend in allen Milieus zu partnerschaftlichen Formen der Erziehung. Die Einsicht, daß „Demokratie“ mindestens dem Anspruch nach als Strukturprinzip aller Lebensbereiche zu gelten hat, ist das wesentliche Vermächtnis der ProtagonistInnen von „1968“ – auch wenn all ihre antikapitalistischen Blütenträume vorerst zerstoben sind.
Ohne eine Revolution gewesen zu sein, hat die Revolte von 68 ein Ausmaß an Reaktion provoziert, das im Rückblick nur erstaunen kann. Willy Brandts Regierung ließ Grundrechte wie die Freiheit des politischen Bekenntnisses bis hin zum Berufsverbot für linke Lehramtsbewerber empfindlich einschränken. Als Reaktion auf die terroristischen Mordtaten an Mitgliedern wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen haben SPD, Union und FDP unter der sozialdemokratisch geführten Regierung Helmut Schmidts hysterisch Menschenrechte wie den freien Zugang von Verteidigern zu Strafgefangenen im „Kontaktsperregesetz“ außer Kraft gesetzt. Im unversöhnlichen Widerstand gegen die von SPD und FDP geschlossenen „Ostverträge“, in denen die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze ebenso anerkannte wie sie im „Grundlagenvertrag“ die Beziehungen zur DDR auf Koexistenz umstellte, wirkten CDU/CSU faktisch als Geburtshelfer einer neuen neonazistischen Rechten, deren Geister das Land seither nicht mehr los wird.
Dritter Bruch: Ökologische Krise sowie die erste und letzte politische Partei der Bundesrepublik. Die nationale Vereinigung. Der Tod Marie Ulrike Meinhofs und des von der RAF ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im „Deutschen Herbst“ 1977 besiegelte das Ende der Neuen Linken und ihrer Kulturrevolution. Helmut Schmidt als Nachfolger Willy Brandts blieb die undankbare Aufgabe, auf den seit 1973 – infolge eines Krieges zwischen Ägypten und Israel – eingetretenen Ölpreisschock mit autofreien Wochenenden, auf die absehbare Krise des Sozialstaats und auf die letzte weltpolitische Offensive der Sowjetunion, den Einmarsch in Afghanistan 1979, zu reagieren. Im übrigen fiel der Nato-Doppelbeschluß zur Aufstellung weiterer Atomraketen Anfang Dezember jenes Jahres – der sowjetische Einmarsch erfolgte indes Ende des Monats.
In den Ölpreiserhöhungen der Jahre 1973 und 1978 wurde – Jahre vor der Gründung der Grünen – gesamtgesellschaftlich klar, daß Rohstoffressourcen begrenzt sind. Das absehbare Ende des „Modells Deutschland“ mit seiner Vollbeschäftigung und seinem Sozialstaat, die ersten Proteste der Bauern von Wyhl gegen geplante Atomkraftwerke und die von Helmut Schmidt selbst herbeigeredete, schließlich seit 1982 von Helmut Kohl durchgesetzte Aufstellung weiterer Atomraketen auf deutschem Boden fiel in eine Zeit, in der US-Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Margret Thatcher dem Neoliberalismus zum Durchbruch verhalfen.
In der Bundesrepublik hingegen bildete sich im Widerstand gegen den Bau weiterer Atomkraftwerke und gegen die Nachrüstung ein Sammelsurium von jetzt nicht mehr revolutionären, sondern in vielen Hinsichten konservativen Bewegungen heraus, die als „Ökopaxe“ oder „Neue Soziale Bewegungen“ zur Wiege der 1980 gegründeten Grünen wurden, einer Partei, die keine historischen Wurzeln mehr in der Weimarer Republik, sondern ausschließlich in den frühen Jahren der Bundesrepublik und in 68 hat.
Ob die Anlässe zu ihrer Formierung unmittelbar mit den Ursachen ihres Erfolges zusammenhängen, darf freilich bezweifelt werden. Die soziale Basis der Partei war und ist ein neues, der Bildungsreform entsprungenes und von ihr profitierendes Bildungsbürgertum, das heute neben universalistischen Optionen selbstbewußt einem Wirtschaftsliberalismus mit menschlichem Antlitz anhängt.
In dem Maß, in dem in den langen Jahren der Kanzlerschaft Helmut Kohls der Ausbau des Sozialstaats mit der aus den Sozialkassen bezahlten deutschen Einheit und der Pflegeversicherung seinen historischen Gipfel erreichte, zersplitterten jedoch die gesellschaftlichen Blöcke, die diesen Sozialstaat und seine Parteien getragen hatten: organisierte Arbeiterschaft und politischer Katholizismus. Der Immobilismus des Systems Kohl und die seit Helmut Schmidts Demission 1982 ersichtliche Lernunfähigkeit der SPD gegenüber veränderten sozialen, kulturellen und weltwirtschaftlichen Umständen haben so einer Partei zum Aufstieg verholfen, deren Anhänger und Mitglieder die beneideten und gehaßten Erfolgsseiten der Bundesrepublik repräsentieren: materieller Wohlstand und Weltoffenheit, tiefsitzende demokratische Haltungen und weitgehende Vorurteilsfreiheit.
Das Lebensprojekt Helmut Kohls, ein seiner selbst bewußtes Deutschland erhobenen Hauptes in ein übernationales Europa zu führen, tragen sie zur Hälfte mit – nationale Sensibilitäten schienen ihnen ebenso fremd wie soziale Not. Die andere Hälfte dieses Projekts – Kohl erwies 1985 mit seiner Ehrung von SS-Gräbern in Bitburg seine Reverenz – zeigte schon kurz nach der Vereinigung ihre abstoßende Fratze.
Mit der Aufhebung des Grundgesetzartikels 16 zum Asylrecht durch SPD und CDU im Jahr 1991, angestoßen durch wochenlang geduldete Pogromhetze der extremen Rechten, ausgenutzt und angefeuert durch die Union, hat sich die Republik allen Bekenntnissen zur Weltoffenheit zum Trotz des universalistischen Teils des Grundgesetzes entledigt.
Gewiß, Fremdenfeindlichkeit gab und gibt es überall in Europa – in England verhindert nur das Wahlsystem den Erfolg rassistischer Parteien, und in Frankreichs Süden wurden immer wieder Immigranten aus Nordafrika von Rassisten aus Zügen gestürzt. Aber: Deutschland war das erste Land des demokratischen Europa, in dem es nach dem Zweiten Weltkrieg zu Pogromen kam: Oder was waren die Ereignisse von Hoyerswerda und Rostock sonst?
Der Aufstieg der Grünen und die schier endlose Kanzlerschaft Helmut Kohls mit seiner widersprüchlichen Einheit von Nationalismus und Europäismus waren jedoch nicht nur parallele Phänomene, sie hingen auch innerlich zusammen: Der zeitliche Zusammenfall des politischen Endes von Kohl mit dem unwiderruflichen Ende der Grünen als Träger des Protests an der Regierung bestätigen das.
Vierter Bruch: Das institutionelle Ende des deutschen Nationalstaats und der Kampf um eine neue Bürgernation. Während die seit Herbst vorigen Jahres amtierende rot-grüne Koalition selbstbewußter als ihre Vorgängerregierung die ökonomischen Interessen des Landes wahrnimmt, ist mit der Einführung des Euro und den vom Wähler nicht kontrollierten Richtlinien der Europäischen Kommission die klassische Demokratie (nicht nur) bei uns bedroht. Das möge nicht als Alarmismus mißverstanden werden; Grund- und Menschenrechte bleiben erhalten. Das mag zwar liberal sein – aber auch demokratisch?
Immerhin verabschiedet sich die Bundesrepublik – mit ihrer neuen Regierung – durch die revolutionäre Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts von ihrem Selbstverständnis als Abstammungsnation zur Willensgemeinschaft. Ähnlich wie in den siebziger Jahren, zur Zeit der Ostverträge, mobilisiert eine geschwächte Union den Mob. Es bleibt zu hoffen, daß diese Aktionen nicht einer neuen Generation von Rechtsextremisten Vorschub leisten werden.
Aber auch wenn die Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts gelingen sollte: Wie die Deutschen die paradoxe Gleichzeitigkeit einer neuen inklusiven Staatsbürgernation mit der Form eines seine demokratische Souveränität zurücknehmenden Nationalstaats vereinen werden, bleibt ungewiß.
Das mörderische Erbe des Dritten Reiches soll offenbar nicht vergessen werden, allen Hoffnungen aus dem rechtskonservativen Lager zum Trotz. Kürzlich erst setzte sich die wiedervereinigte Nation anläßlich der Friedenspreisrede Martin Walsers und der Debatte um das Berliner Mahnmal für die Holocaustopfer noch einmal mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander. Unabsehbar ist noch, ob sich die Bundesrepublik nach fünfzig Jahren für nationales Glück oder für ein Selbstverständnis universeller historischer Verantwortung entscheiden wird.
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