Mit Chinesen muß man chinesisch reden

Als langjähriger Generalintendant des Staatstheaters Stuttgart war der Dramatiker Walter Erich Schäfer stets ein hochgeehrter Mann. Während der Nazizeit aber galten seine Stücke als „repräsentativ“ für die „junge deutsche Nation“. Eine Nachkriegskarriere  ■ Von Florian Radvan

Kriegsende und Kapitulation, Trümmerlandschaft und Hungersnot bedeuteten für die deutschen Theater nach Ende des Dritten Reiches keinen Zusammenbruch. Schon drei Wochen nach dem offiziellen Waffenstillstand hob sich in Berlin am 27. Mai 1945 wieder der Vorhang. Die Institution des öffentlichen Theaters, eingeteilt in Staatstheater, Stadttheater und Landesbühnen, finanziell gefördert von den Ländern, Städten oder Kommunen, blieb fast unverändert bestehen. Daß auch viele Regisseure, Chefdramaturgen oder Bühnenbildner recht problem- und skandallos in den Theaterbetrieb der jungen Bundesrepublik hinüberglitten, zeigt das Beispiel Berlin. Neben dem Staatstheater-Intendanten Gustaf Gründgens hatten dort zwischen 1934 und 1944 Jürgen Fehling und Heinz Hilpert, aber auch Erich Engel, Wolfgang Liebeneiner, Karl Heinz Martin, Lothar Müthel und Karl-Heinz Stroux als Regisseure Anerkennung gefunden. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt arbeiteten alle acht an renommierten deutschen Bühnen in Ost- und Westdeutschland.

Ein eindrucksvoller Beleg für die personelle Kontinuität ist auch der bisher weitgehend unbekannte Fall von Walter Erich Schäfer. Von Theaterhistorikern wird sein Name vor allem mit den Württembergischen Staatstheatern in Stuttgart in Verbindung gebracht. Dort war Schäfer schon vor 1933 Dramaturg und von 1949 bis zu seiner Pensionierung 1972 ein geachteter und beliebter Generalintendant, den der Nimbus der väterlichen Autoritätsperson umgab. Während seiner 23jährigen Dienstzeit galt Schäfers besonderes Engagement der Oper und dem Ballett, und für seine künstlerische Tätigkeit wurde er 1959 sogar mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Im selben Jahr bot man ihm die Leitung der Berliner Staatsoper an, die er allerdings ablehnte. Zu seiner Pensionierung schließlich erhielt Schäfer die Bürgermedaille der Stadt Stuttgart, nachdem er bereits Mitte der 60er Jahre wegen seiner Verdienste um den französisch-deutschen Kulturaustausch mit dem Offizierstitel dans l'ordre des arts et lettres gewürdigt worden war.

1975 legte der Vielgeehrte seinen autobiographischen Bericht „Bühne eines Lebens: Erinnerungen“ vor. Auf eindrucksvolle Weise schildert das Buch sowohl den strukturellen Wiederaufbau und die künstlerische Arbeitsweise des Stuttgarter Theaters nach 1945 als auch Schäfers Freundschaften mit prominenten Schauspielern, Komponisten oder Theaterleitern. Doch auch die Jahre zwischen 1933 und 1945 waren für Schäfer kein blinder Fleck. In den Passagen über den Nationalsozialismus präsentiert er sich als Schriftsteller, der dem Hitlerregime gegenüber kritisch eingestellt war und mit der Verleumdung seiner Person wie der Zensur seiner Werke zu rechnen hatte.

In eindringlichen Worten schildert der spätere Generalintendant seine politisch motivierte Vertreibung vom Stuttgarter Dramaturgenstuhl 1933. „Durch einen offiziellen Erlaß“ sei er vom Reichsstatthalter aus Württemberg ausgewiesen worden: „Ich verließ die Stadt Stuttgart damals mit Schimpf und Schande.“ In der Folge sei er auch aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen worden, was de facto einem Publikationsverbot gleichkam. Auch später, während des Krieges, seien seine Stücke — besonders das populäre Schauspiel „Der Leutnant Vary“ — von der Zensur beanstandet worden, ihn, den Autor, habe man zu Änderungen gezwungen.

Schäfer erzählt auf teils amüsante, teils nachdenkliche Weise durchaus glaubwürdig. Dennoch muß man sich fragen, wie es möglich war, daß ein aus der Reichsschrifttumskammer vermeintlich ausgeschlossener Schriftsteller nach 1933 kontinuierlich weiterpublizieren konnte, darunter sogar Schul- und Feldpostausgaben? Und wie ein vom NS-Regime geächteter Dramaturg während des Zweiten Weltkriegs nach eigenen Angaben zum meistgespielten deutschen Gegenwartsdramatiker avancieren konnte? Warum wanderte sein Stück „Der Leutnant Vary“, ein Schauspiel über den Ersten Weltkrieg, mit dem der Autor seinen „bescheidenen Beitrag zur Versöhnung und Verständigung zweier Völker“ leisten wollte, gerade im zweiten Kriegsjahr über so viele Bühnen des selbsternannten Großdeutschen Reiches? Archive, alte Bühnenjahrbücher und zeitgenössische Theatermagazine geben Aufschluß. Sie zeigen ein anderes Bild von Walter Erich Schäfer: das eines durchaus kompromißbereiten und anpassungsfähigen Künstlers.

Anfang der dreißiger Jahre feierte Schäfer, der seit 1929 als Dramaturg in Stuttgart arbeitete, mit den beiden Schauspielen „Der 18. Oktober“ und „Schwarzmann und die Magd“ große Erfolge. Im Februar 1932 am Münchner Staatstheater uraufgeführt, schildert „Der 18. Oktober“, wie ein rheinbündisches, unter Napoleons Befehl stehendes Füsilierregiment geschlossen zur preußischen Armee desertiert. Da hier mit einem ausgeprägt nationalistischen Unterton die deutsche Unabhängigkeit gepriesen wurde, nahmen die NS-Kulturfunktionäre das Schauspiel bald nach der Machtergreifung in den Kanon jener Theaterstücke auf, die den Bühnen im Rahmen einer „deutschen Spielplangestaltung“ empfohlen wurden. Es galt als „die repräsentativste Dichtung der jungen deutschen Nation“ und wurde bis 1937 auf „mehr als 150 Bühnen der Nation“ gezeigt.

Eine sofortige Aufnahme in den Kanon fand auch „Schwarzmann und die Magd“, das in Stuttgart und München im November 1933 parallel uraufgeführt wurde. Wenig später schrieb das Theatermagazin Bausteine zum deutschen Nationaltheater: „Das Stück verfolgt man gespannt von Anfang bis Ende. Es kann jeder Bühne empfohlen werden.“ Es dramatisiert den Mord an der jungen Magd Res, die — vom Bauernsohn Schwarzmann unehelich geschwängert — seiner Liebe zu einer anderen Frau im Wege steht. Will Vespers Magazin Die Neue Literatur merkte lobend an, daß im Schwarzmann „noch ein Rest des guten, alten Bauernbluts vorhanden (sei), denn sonst würde er nicht selbst seine Tat sühnen. Die Res ist nun das siebte Kind einer Häuslerfamilie, verwachsen, lebensuntüchtig, von der Natur zum Untergang bestimmt.“ In seiner Autobiographie erwähnt Schäfer diese beiden Erfolgsstücke zwar, reflektiert aber nicht, wie sie von den Nationalsozialisten funktionalisiert wurden.

Auch sein Weggang aus Stuttgart war keinesfalls eine „Vertreibung“ und fand nicht unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 statt, sondern erst gut ein Jahr später, im Frühling 1934. Nachdem er am Stuttgarter Theater offenbar in persönliche Streitigkeiten verwickelt worden war, wandte Schäfer sich an den Reichsdramaturgen Rainer Schlösser, der ihm eine Dramaturgenstelle in Mannheim vermittelte. Schäfers Aussage, daß er „seit der Machtergreifung der Nazis in Stuttgart nicht mehr gespielt werden durfte“, zum Trotz erlebte er dort im November 1933 die umjubelte Uraufführung von „Schwarzmann und die Magd“, wie verschiedene Tageszeitungen berichteten.

Mitte 1934 schließlich bot Schäfer seine Dienste beim Propagandaministerium an. In einem Schreiben an Schlösser heißt es: „Mit Interesse habe ich von der Erweiterung Ihres Wirkungskreises gelesen. Sollten Sie je noch einen Lektor brauchen, so wissen Sie ja, dass ich auch ohne Reichtümer mich sehr freuen würde, bei Ihnen zu arbeiten.“ Im gleichen Jahr beantragte Schäfer die Mitgliedschaft in der NSDAP und wurde in diesem Gesuch auch von offizieller Seite unterstützt. Der Reichsdramaturg stellte fest: „Ich nehme diese Mitteilung gerne zum Anlaß, um Sie auch meinerseits wissen zu lassen, daß ich Dr. Schäfer als einen wichtigen Aktivposten für die von mir vertretene nationalsozialistische Theaterpolitik halte.“ Am 1. Mai 1937 wurde er aufgenommen, Erich Schäfers Mitgliedskarte von der NSDAP trägt die Nummer 5060003.

Nach den ersten Bühnenerfolgen hatten Schäfer und sein Leipziger Verleger Gerhard Dietzmann verständlicherweise große Erwartungen an die Zukunft. In einer Anfrage an die Reichsdramaturgie erkundigen sie sich, ob ein neues Stück, betitelt „Der Feldherr und der Fähnrich“, nicht zu Hitlers Geburtstag am 20. April 1934 für das Berliner Schauspielhaus inszeniert werden könne. Eine positive Antwort blieb jedoch aus. Dem Stück mag zum Verhängnis geworden sein, daß es einen sehr direkten Bezug zur Geschichte der NS-Bewegung herstellte. Es behandelt die Bildung einer soldatisch-deutschen Volksgemeinschaft nach dem Ersten Weltkrieg und wurde wohl als ein Kommentar zur noch nicht lange zurückliegenden Etablierungsphase der NS-Bewegung verstanden — und zwar als ein womöglich nicht ausreichend heroisierender. Erst einige Jahre später konnte „Der Feldherr und der Fähnrich“ im Rahmen einer Feierstunde der Mannheimer NS-Kulturgemeinde uraufgeführt werden.

Doch schon mit „Der Leutnant Vary“ — im Oktober 1940 am Preußischen Staatstheater Kassel erstmalig inszeniert — knüpfte Schäfer wieder an seine früheren Erfolge an. Ein Gerichtsdrama um die Aufklärung eines geheimnisumwitterten Gefechts zwischen französischen und deutschen Truppen während des Ersten Weltkriegs. Schäfer berichtet: „Als ich das Stück fertiggeschrieben hatte, begann der Krieg. Es wurde natürlich verboten und ruhte lange Zeit. Aber dann schien es mir, daß ein Zug in diesem Stück gerade im Kriege nicht unwürdig wäre: daß nämlich auch im Krieg der Gegner ein Mensch bleibt. Ein Kamerad, um es im Jargon der Zeit zu sagen.“ Tatsächlich läßt sich das Stück aber auch als Verherrlichung der soldatischen Opferbereitschaft und als moralische Rechtfertigung des Krieges lesen. Zweifellos kein aggressiver Beitrag zur NS-Kriegspropaganda, jedoch eine Kriegsbejahung. Zensiert worden ist das Schauspiel vermutlich nicht. Wahrscheinlicher ist, daß Schäfer den Text später auf eigene Initiative hin noch einmal umgeschrieben hat.

Die Liste der Umdeutungen und Weglassungen, die Schäfer mit Bezug auf seine Vergangenheit im Dritten Reich präsentiert, ließe sich fortsetzen. Entsprechend müßten auch etliche nach 1945 veröffentlichte Theaterchroniken, Festschriften und Zeitungsartikel umgeschrieben werden. Sicher war der damalige Dramaturg und Schriftsteller Schäfer kein entflammter Nazi. Doch durch die fortwährende Bereitschaft, die nationalsozialistische Kulturpolitik durch neue Stücke aktiv zu unterstützen, signalisierte er zumindest eine Duldung des Regimes. Im Dritten Reich hat sich Schäfer anscheinend an einer Maxime orientiert, die er später in seiner Autobiographie notierte: „Wenn man sich mit Chinesen verständigen will, muß man wohl oder übel chinesisch reden.“ Walter Erich Schäfer starb am 28. Dezember 1981.