Neues Vereinswesen

■ Der eigene Zipfel im globalen Atomstädtchen – eine Dorfverschönerung

Es gibt keine echte Emigration mehr – demzufolge geht es auch nicht mehr um Integration: Das alles hat jeder zu Hause schon x-mal durchexerziert. Wichtig ist nur noch, in der fremden Sprache das Kleingedruckte zu verstehen, der Rest ist Déjà-vu.

Die verdiente russische Schauspielerin Katharina Gusseva und der Theaterregisseur Wiktor Schulmann lebten lange Jahre im geheimen sibirischen Atomstädtchen „Tscheljabinsk 65“ – sie arbeiteten dort am Theater. Vor einigen Jahren zogen sie nach Berlin – und bekamen prompt eine Wohnung im hiesigen Atomstädtchen zugewiesen. So wie ihnen ging es auch vielen anderen „Russen“. „Einmal im Atomstädtchen, immer im Atomstädtchen“, meint Wiktor, der sich dort sehr wohl fühlt. Nicht zuletzt, weil alle Straßen – ähnlich wie in Tscheljabinsk 65 – nach Widerstandskämpfern benannt wurden.

Früher hieß das antifaschistische Atomstädtchen im Westen Berlins „Paul-Hertz-Siedlung“. Der idyllisch im Grünen plazierte Sozialwohnungsbaukomplex ist umgeben von Stadtautobahnen, -abfahrten, Kanälen und dem nicht minder abgestorbenen Jakob-Kaiser-Platz. Die Anlage gehört der Gewobag und verdankt ihre Entstehung und Wandlung dem Kalten Krieg. Nach dem Mauerbau 1961, als laut Wolfgang Neuss „die schlimmsten Leute die Stadt verließen“ und es so aussah, als würde West-Berlin veröden, wollte man partout Durchhaltewillen demonstrieren – und veranstaltete eine Bauausstellung. Daraus entstand diese Vorzeigesiedlung mit 5.100 durchweg dreigeschossigen Mieteinheiten (ME), unweit der antifaschistischen Gedenkstätte Plötzensee. Hinter dem Wohnviertel erstreckt sich ein großes Schrebergartengebiet mit Nachtigallengesang. 1987 wurden erneut Bauprojekte an die Gewobag herangetragen. Diesmal galt es nicht, der Verödung, sondern der Wohnungsknappheit in der Mauerstadt entgegenzutreten. Weil inzwischen das Bauland knapp geworden war, verfiel man auf die Idee, die Häuser in der Paul-Hertz-Siedlung um eine Etage aufzustocken – und organisierte einen Wettbewerb für die „Dachaufbauten“.

Die Bewohner konterten mit organisiertem Widerstand: Protesttransparente und Demonstrationen. Sie befürchteten einen vermehrten Zuzug von „Problemfällen“ sowie eine ungünstige Veränderung der Beschattungsgrenzen. Heraus kamen am Ende, in Zusammenarbeit mit dem engagierten Mieterbeirat, zurückgesetzte Doppel-Penthäuser mit beschattungsreduzierten Laubengängen drum herum. Der Umbau dauerte pro Block drei Monate, keine Wohnung wurde entmietet. Weil die Bauarbeiten aber die Grünflächen zerstörten, wurde um die Blöcke herum alles liebevoll neu gestaltet. Anschließend meinten selbst hartgesottene Aufstockungsgegner: „Die Siedlung hat dadurch gewonnen, sie ähnelt jetzt einem Wissenschaftler-Vorort bei Vermont – besonders im Winter!“

„Im Sommer ist es dort sogar noch schöner!“ insistierte Herr Mallock von der Gewobag. Dann kam jedoch leider die Wiedervereinigung – und bescherte der Stadt Bauland im Überfluß. So viel, daß Herr Mallock gesteht: „Heute wäre eine solche Wohnraumerweiterung nicht mehr preisgünstig!“ Weil sogleich überall gebaut wurde, kam es sogar zum gefürchteten Mietermangel. Was lag näher, als einfach ein Teilkontingent der Postsowjetniks dort einzuquartieren – und zwar unters Dach: in die Penthäuser. Damit war das Atomstädtchen perfekt!

Katja und Wiktor veranstalten gelegentlich Lesungen mit Texten von Mandelstam, Achmatowa und Twardowski. Sie arbeitet im Integrationsverein „Club Dialog“ im Haus der Russischen Kultur. Wiktor ist seit neuestem Dozent am Europäischen Theater-Institut e.V. Seine Antrittsvorlesung begann folgendermaßen: Unsere Aufgabe ist ungewöhnlich einfach: auf der Bühne lebensecht sein, keine Puppe sein, nicht hölzern sein, keine Marionette sein... Sein und nicht scheinen. Existieren und nicht Existenz darstellen. Uns stören nur zwei Dinge – ausgedachte und bedingte Umstände und Verhältnisse. Situationen auf der Bühne und noch dazu die Öffentlichkeit, die Anwesenheit des Publikums. Wir überwinden diese Hindernisse dank unserer Fähigkeit, an ausgedachte Umstände, an die Berechtigung der Lüge, an das magische „Wenn..., dann“, „Was wäre, wenn“ und „Als ob“ – zu glauben. Unser naiver Glaube ist unser Hauptwerkzeug. „Über die Dichtung (Ausgedachtes) Tränen ich vergieße.“ Aber wir überwinden diese Hindernisse auch dank der Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu steuern. Willkürliche Aufmerksamkeit auf der Bühne ist das Wichtigste in der Arbeit eines Schauspielers, die Grundlage seiner inneren Technik, wenn keine ausreichende, so doch eine unbedingt notwendige Bedingung eines wahrhaften, echten Lebens auf der Bühne. Es ist natürlich klar, daß der Mensch keinen Muskel im Kopf hat, aber ich fühle einen solchen in meinem Kopf, und ich nenne ihn den Aufmerksamkeitsmuskel. Ich kann ihn trainieren, wie z.B. meine Arme oder Beine. Lassen Sie uns ein Experiment machen. Stellen Sie sich ein kleines Zipfelchen ihrer Lieblingskuscheldecke vor, mit der Sie sich schlafen gelegt haben... Jetzt stellen Sie sich das Bett vor... Das Schlafzimmer... Ihre Wohnung... Die Etage... Das Haus... Die Straße... Den Stadtteil... Berlin... Deutschland... Europa... Die Erdkugel... Das Universum... Und nun zurück zum Zipfelchen. Helmut Höge