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Soll und Haben

■ Hundert Tage Rot-Grün (2): Die Regierung tut bei Staatsbürgerrecht und Atompolitik Erstaunliches. Bei Steuern und Sozialem leider nicht

I.

Die ersten hundert Tage haben wieder Leben in die Politik gebracht. In der Staatsbürgerschaft und in der Energiepolitik sind die Weichen neu gestellt. Allein diese beiden Neuorientierungen könnten aus der ersten Amtszeit der Regierung Schröder formative Jahre für die Berliner Republik machen. Darüber hinaus ist in der Familienpolitik, dem Bundesverfassungsgericht sei Dank, ein historischer Kompromiß zwischen zwei feindlichen ideologischen Lagern denkbar: denen, die auf scheinbar traditionelle Weise familienversessen, und jenen, die auf scheinbar progressive Weise familienvergessen sind. Das könnten die Aktivposten sein, nicht eben wenig für eine Legislaturperiode.

Die Passiva schlagen freilich genauso schwer zu Buche. Nichts läßt darauf hoffen, daß diese Regierung eines Tages eine Steuer- und eine Sozialreform verwirklichen könnte, die diesen Namen verdienen. Gesellschaftspolitisch wird kein Horizont sichtbar, der über die industrielle Erwerbsgesellschaft hinausreicht. Das alles, Soll und Haben, wird organisiert von einem Kanzler, der die Kunst der aktiven Moderation auf bemerkenswerte Höhen treibt, der aber auch ahnen läßt, wie intellektuell flach die Ebenen sind, auf denen er sich müht.

II.

Erinnern tut not, um zu ermessen, was eigentlich geschieht, wenn eine andere Bürger- und Energiepolitik kommt. Seit es in Deutschland eine allgemeine Staatslehre gibt, haben Staats- und Verfassungsrechtler das Wesen des Staates umgrenzt mit den Begriffen Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt. Was ist aus dieser Dreifaltigkeit geworden? Die „summa perpetuaque potestas“ (Bodin) hat sich längst zu den organisierten Interessen verkrümelt; von der Souveränität ist wenig geblieben. Der politische Raum deckt sich, da Europa Gestalt gewinnt, immer weniger mit den staatlichen Grenzen. Und das Staatsvolk, in der deutschen Tradition durchweg als homogenes Volk gedacht, ist auch bald nicht mehr, was es einmal war. Wenn die Unterschriften erst einmal eingesammelt sind und die Gesetzestexte verabschiedet, wird sich das Staatsvolk nicht mehr durch deutsches Wesen und deutsche Abstammung, sondern durch die republikanische Qualität des politischen Bürgers bestimmen.

Dieser Weg von der völkischen Nation zur offenen, „bürgerlichen“ Republik (Dieter Oberndörfer) läßt fragwürdige Traditionsbestände hinter sich und begründet ein neues, republikanisches Selbstverständnis.

III.

Der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomkraft hat, über den Tag, Thema und Termine hinaus, eine doppelte Bedeutung für die künftige Entwicklung des Gemeinwesens. Als kürzlich für den Club of Rome der Soziologe Peter L. Berger allerlei Fallstudien, von Indonesien bis USA, von Südafrika bis Frankreich, zusammengestellt hat, die beschreiben, wo welche Konflikte Gesellschaften zu zerreißen drohen, konnte der deutsche Berichterstatter Franz Xaver Kaufmann nur einen notieren: den Konflikt um die Kernenergie. Am Atomkonflikt haben sich Parteien und Bewegungen gebildet, (fast) bürgerkriegsähnliche Zustände entzündet. So betrachtet, kann man den Ausstieg auch als eine Investition in den gesellschaftlichen Frieden lesen.

Der andere Aspekt: Trittin hat sich aufgemacht, die Reste der staatlichen Souveränität einzusammeln, einen politischen Willen, gestützt auf eine demokratische Wahl, zu formulieren und ihn – opportune, importune – auch gegen Widerstand durchzusetzen. Das hat es lange nicht mehr gegeben.

Eigentlich müßte die Nachricht konservative Herzen höher schlagen lassen: Der Staat meldet sich zurück, und das ausgerechnet in der Person eines grünen Umweltministers. Viel wird auch in anderen Feldern der Politik davon abhängen, ob das Primat der Politik sich zu behaupten vermag, ob, altmodisch formuliert, die Einsicht sich durchsetzt, daß das Gemeinwohl etwas anderes ist als der Vollzug des Interessengruppenpluralismus.

IV.

Über die Gesellschafts- und Sozialpolitik dieser Regierung gibt es nicht viel Neues zu vermelden. Die beiden Minister Andrea Fischer und Walter Riester waren damit beschäftigt, die Wahlversprechen der SPD aufzuräumen und die Stammkundschaft zu bedienen: eine vertrauensbildende Maßnahme, um danach an die Reformarbeiten gehen und den eigenen Leuten auch etwas zumuten zu können? Das wäre die optimistische Interpretation. Doch es wird wohl anders kommen: Rot-Grün wird nicht die Kraft aufbringen zu einer wirklichen Steuer- und Sozialreform, weil sozialdemokratische Bürokraten und Besitzstände in Ministerien und Milieus im Wege stehen. Die Fixierung auf das eine große Ziel, die Zahl der Arbeitslosen zu senken, könnte sich noch als Bumerang erweisen: Diese Regierung wird, wie andere vor und nach ihr, daran scheitern, dafür aber viele andere Möglichkeiten gar nicht erst sehen.

Die angestrebte „Europäisierung der Beschäftigungspolitik“ stellt die Wegweiser in die falsche Richtung. Vor Ort, in den Städten und Gemeinden, spielt die Musik. Eine lokale Beschäftigungspolitik wäre zu entwerfen und zu ermöglichen, Sozial- und Arbeitslosenhilfe organisatorisch und finanziell vor Ort zu poolen. Mit dem Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit werden einmal mehr neue Milliarden in die alten Schläuche der Bundesanstalt für Arbeit gepumpt. Sie wären besser aufgehoben bei innovativen Kommunen oder in einem Arbeitsplatzkreditprogramm, wie es Peter Grottian seit Jahren vorschlägt. Wenn jeder fünfte Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren mit einem ungenügenden Bildungskapital ins Leben geschickt wird, viele von ihnen ihre Ausbildung mehrmals abbrechen, dann ist es nicht genug, in der ABM-Logik Warteschleifen zu bevölkern und Parkplätze auszubauen, dann braucht neues Geld auch neue Ideen. Von Walter Riester weiß man, daß er sie hat. Wo sind sie nur geblieben?

Ähnlich phantasielos geht es dort zu, wo die Regierung direkt handeln kann, als Arbeitgeber im öffentlichen Dienst. Warum konfrontiert sie nicht die ÖTV mit einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik, mit attraktiven Teilzeitangeboten und bietet dafür im Gegenzug neue Arbeits- und Ausbildungsplätze? Statt dessen die alten Rituale mit den alten Masken, so wie im Bündnis für Arbeit ja auch vor allem die alten Schlachtrösser des deutschen Korporatismus versammelt sind.

Aus all den Versatzstücken dieses Puzzles wird langsam ein altes und vertrautes Bild sichtbar: die Politik der SPD, die gefangen ist in den Gattern der alten Industriegesellschaft. Gewiß, Deutschland will im Konsens regiert werden, von der Atom- über die Sozialwirtschaft bis ins Bündnis für Arbeit. Doch das kann nur gelingen, wenn die Regierung weiß, was sie will. Das scheint nicht der Fall. In der Finanz-, Steuer- und Sozialpolitik hat sie ihren High-noon noch vor sich. Des Kanzlers Kunst aktiver Moderation wäre keine schlechte Voraussetzung für politischen Erfolg, reicht aber allein nicht.

Deshalb gewinnt Bedeutung, was sonst nur peinlich wäre, etwa wenn er eine verdutzte Gemeinde bei der Eröffnung des Berliner Jüdischen Museums mit der Frage konfrontiert, wo wir Deutschen heute wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell „stünden, wenn sie alle noch da wären“. Der Holocaust als Standortnachteil? Natürlich hat er's so nicht gemeint, doch viele, die dabei waren, beschlich das klamme Gefühl, so dürfe ein Bundeskanzler nicht einmal bei der Eröffnung einer Minigolfanlage reden. Nicht nur für Weihestunden, sondern auch für die ganz profanen Probleme wäre ein Kanzler ganz nützlich, der auch einen geistig-politischen Schatten wirft.

Rot-Grün steht, wie der Besucher in Libeskinds Museum, immer wieder vor überraschenden Alternativen. Die Reorientierung im (politischen) Raum ist hier wie dort nicht einfach, aber aufregend. Aus dem Jüdischen Museum geht man anders heraus, als man hineingegangen ist. Die nächsten 1.360 Tage können, wo mutige Neuorientierungen sich durchsetzen, formative, aber auch, wo Kleinmut herrscht, verlorene Jahre werden. Warnfried Dettling

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