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Kurzer Lehrgang über Schonfristen

■ Die Regierung Brandt geriet 1969 unmittelbar nach ihrem Antritt in die Konfrontation. Heute ist die Opposition am Boden, aber Konsens allein bringt die Politik auch nicht nach vorn

Bei Präsidentschaftswahlen in den USA gilt: „The winner takes it all.“ Kein Wunder, daß dem jeweils neuen Administrations- Team einschließlich des Chefs in den Medien traditionell eine 100-Tage-Schonfrist eingeräumt wird. Die Übung ist, relativ spät, auch nach Deutschland übergeschwappt. Nur daß jetzt allerorten 100-Tage-Bilanzen gezogen werden, bei denen Rot-Grün keineswegs geschont wird. Das Resümee: Die Regierungsarbeit ist zerfahren, dilettantisch. Aber der Kanzler erstrahlt in immer hellerem Glanz. Beweis: die Meinungsumfragen. Das färbt natürlich ab, auch auf kritische Gemüter in den Medien. Mediale Schonfrist hat eigentlich nur der Kanzler.

Ein Vergleich drängt sich auf. Wie verhielten sich eigentlich 1969, 100 Tage nach der Installation der sozial-liberalen Koalition, die Erwartungen der Bevölkerung zu ersten Regierungsschritten? Wie stand es um die Schonfrist, die die Medien gaben? 1969 waren nach dem Überraschungseffekt, den der Machtwechsel selbst bedeutete, die Erwartungen an die Brandt-Regierung sehr hoch gespannt. Man begann von den Sozialliberalen nicht weniger zu verlangen als den Durchbruch zu einer demokratischen Modernität. Ganz im Sinn von Brandts Regierungserklärung: „Wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten.“ Zu den hochgestimmten Erwartungen trug bei, daß ein Teil der außerparlamentarischen Opposition die Chance sah, dem Unternehmen Brandt/Scheel einen Linksdrall zu geben.

Eigentlich war nach 100 Tagen noch gar nichts passiert, aber die Gegenoffensive lief bereits auf vollen Touren. Springers Imperium krallte sich an Brandts Äußerung fest, im Verhältnis zum Osten müsse Kooperation statt Konfrontation angestrebt werden. Axel Cäsar selbst witterte Verrat an der deutschen Einheit.

An Schonfrist war vor allem bei der CDU/CSU nicht zu denken. Sie sah den Machtwechsel als verkappten Staatsstreich und brauchte Jahre, bis zum knapp gescheiterten Mißtrauensvotum von 1972, um sich mit dem Machtverlust überhaupt abzufinden.

Noch vor den ersten innen- wie außenpolitischen Schritten der kleinen Koalition war die Luft geschwängert von Pulverdampf. Günter Gaus schrieb damals im Spiegel: „Es vollzieht sich in der veröffentlichten Meinung Westdeutschlands tatsächlich eine Polarisierung, die Freund-Feind-Verhältnisse wiederbelebt.“ Gaus sprach, in Anlehnung an Carl Schmitt, vom „Freund-Feind-Verhältnis“, um die konservative politische Polarisierung als vordemokratisch zu charakterisieren. Gleichzeitig aber konstatierte er erfreut „unvertraute Klarheit“.

Die heutige politische Lage stellt sich nahezu umgekehrt dar. Die Wähler von 1998 haben eine klare Wahlentscheidung getroffen. Aber diese Entscheidung war mehr vom Überdruß diktiert als von hochgestimmten Erwartungen. Daß die neue Regierung starke Schwierigkeiten beim Manövrieren hat, wird zwar kritisiert, aber in Kauf genommen. Der Grund hierfür: Viele Wähler von Rot-Grün sind für mehr soziale Gerechtigkeit, für den Bürger- Staat und für eine zeitgemäße Energiepolitik – aber bitte ohne Opfer und im Konsens. 1969 stand hinter Brandt eine buntscheckige, kräftige und kampfbereite politische Bewegung. Davon kann heute nicht die Rede sein.

Der zweite große Unterschied besteht im Zustand der CDU. Sie hatte schon vor dem Wahltermin 1998 die Segel zur Hälfte gestrichen, hat den Machtwechsel klaglos akzeptiert und richtet sich jetzt auf acht Jahre in der Wüste ein. Die „Neuen“ sind ihr nicht zuwider. Sie sind schließlich Fleisch von ihrem Fleisch. Dem von ihr mit halber Kraft losgetretenen Kulturkampf in Sachen Staatsbürgerrecht ist die Niederlage auf die Stirn geschrieben.

So unterschiedlich die Situationen damals und heute sind, eins läßt sich aus den ersten 100 Tagen von 1969 lernen: Wenn einem der Wind ins Gesicht bläst, gilt es, zu fighten. Es lohnt sich. Christian Semler

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