Wahl mit Bonn-Effekt

■ Forschungsgruppe Wahlen: Doppelpaß-Diskussion und die negative 100-Tage-Bilanz der Bundesregierung für Hessen wahlentscheidend

Die Mannheimer Wahlforscher schreiben:

„Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft in Verbindung mit der 100-Tage-Bilanz der Bundesregierung haben die Wahl in Hessen außergewöhnlich stark beeinflußt. Im Gegensatz zu vielen anderen Wahlen spielten Fragen der Ökonomie und die Spitzenkandidaten eine untergeordnete Rolle.

Der Regierungswechsel in Wiesbaden ist dabei weniger durch massive Einstellungsänderungen in der Gesamtbevölkerung zustande gekommen als vielmehr durch eine sehr ungleiche Mobilisierung der verschiedenen Parteianhängerschaften. Darüber hinaus ist es der CDU gelungen, überdurchschnittliche Gewinne in für sie eher untypischen sozialstrukturellen Gruppen zu erzielen. So hat die CDU bei den Arbeitern 7 Prozentpunkte, bei den Arbeitslosen 6 und bei den unter 30jährigen 10 Prozentpunkte zugelegt. Bei den über 60jährigen gewinnt sie hingegen nur 1 Prozentpunkt hinzu, in der großen Gruppe der Angestellten nur 2 Prozent, beides waren bei der Bundestagswahl die Gruppen, bei denen die Union starke Verluste hatte.

Fast genau spiegelbildlich fallen die Ergebnisse der SPD aus. Zwar legt sie insgesamt 1,4 Prozentpunkte zu, sie verliert jedoch bei den Arbeitern, ihrer klassischen Anhängerschaft, ebenso wie bei den Arbeitslosen 5 Prozentpunkte. In diesen beiden Gruppen – besonders deutlich bei den un- und angelernten Arbeitern – verbessern sich die Republikaner am stärksten. Die SPD gewinnt bei den Angestellten weit überdurchschnittlich (plus 5), allerdings hat hier der grüne Koalitionspartner Einbußen in gleicher Höhe.

Die Verluste der SPD sind in erster Linie auf die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft zurückzuführen, denn gerade unter den un- und angelernten Arbeitern ist die Ablehnung besonders hoch: Während sich von allen Befragten in Hessen 61 Prozent gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aussprechen, sind es bei den un- und angelernten Arbeitern 82 Prozent. Und während von den Hessen insgesamt nur 42 Prozent die Unterschriftenaktion der CDU befürworten, sind es bei den un- und angelernten Arbeitern mit 81 Prozent fast doppelt so viele.

Arbeitslosigkeit ist auch in Hessen das wichtigste Problem, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß wie bundesweit. Das zweitwichtigste Thema in Hessen ist die Schulpolitik. Mit der Situation an den Schulen sind 54 Prozent der Hessen eher unzufrieden, nur 13 Prozent sind eher zufrieden. Auch bei diesem Thema hat die CDU im Gegensatz zu den Themen Wirtschaft und Arbeitsmarkt einen Kompetenzvorsprung (31 Prozent) vor der SPD (25 Prozent).

Der Regierungswechsel hat stattgefunden, weil die Grünen so starke Verluste hatten, die die SPD diesmal nicht in vollem Umfang auffangen konnte. Das Debakel der Grünen hängt mit ihren klassischen Themen zusammen: Umweltschutz, Kernenergie und speziell in Rhein-Main der Flughafenausbau. Diese Themen haben in der Gesamtbevölkerung stark an Bedeutung verloren, zudem ist die typische Anhängerschaft der Grünen vom Durchsetzungsvermögen ihrer Partei auf Bundes- und Landesebene enttäuscht. Erstaunlicherweise konnten die Grünen nicht von der Polarisierung beim Ausländerrecht profitieren. Die Grünen hatten deshalb die größten Mobilisierungsprobleme. Besonders hoch waren ihre Verluste bei den unter 30jährigen (minus 11) und bei den 30- bis 44jährigen (minus 7).

Die FDP hat denkbar knapp die Fünfprozenthürde übersprungen. Sie erreichte lediglich 3.196 Stimmen mehr als erforderlich. Ihre Verluste fallen in allen sozialstrukturellen Gruppen relativ gleichmäßig aus.

Eine untergeordnete Rolle für die Entscheidung der Wähler spielten bei dieser Wahl die Spitzenkandidaten, die blaß blieben. So konnten noch in der Woche vor der Wahl nur 57 Prozent den seit acht Jahren regierenden Hans Eichel als Spitzenkandidaten der SPD benennen, lediglich 48 Prozent wußten, daß Roland Koch für die CDU kandidiert.

Bei dieser Wahl hat die Bundespolitik eine wesentliche Rolle gespielt. Zum einen hat sie das emotionalisierende Thema des Wahlkampfs vorgegeben, zum anderen dominierte die 100-Tage- Bilanz die Medien in der Woche vor dem Wahltermin. Die einhellige Kritik an den bisherigen Leistungen der Bundesregierung zeigte Wirkung: So fand der entscheidende Stimmungsumschwung eine Woche vor der Wahl statt. Daß soviel Bewegung in so kurzer Zeit möglich ist, hängt auch mit den weiter abnehmenden Bindungen großer Wählerschichten an bestimmte Parteien zusammen.

Wenn Hessen auch keine Testwahl für Bonn war, die Auswirkungen für Bonn werden spürbar sein: Die Schonfrist für Rot-Grün ist vorbei. Die Bundesregierung hat ihre absolute Mehrheit im Bundesrat verloren. Auch das Klima in der Koalition wird schwieriger, die Grünen werden ihre Rolle nachdefinieren müssen. Und nicht zuletzt: Die Union hat mit diesem Sieg die Chance, schneller Tritt zu fassen, als es bisher absehbar war.“ Dokumentation: dpa