Übertreibende Forscher

Die ersten Warnungen vor Waldsterben und Klimagau klangen dramatisch. Auch Forscher übertreiben gern  ■ Von Matthias Urbach

Wissenschaftler fühlen sich oft mißverstanden. Sie machen auf ein Problem aufmerksam, Umweltpolitiker und Medien springen drauf, so ihre Kritik, und übertreiben furchtbar. Während Umweltschützer oft meinen, ihre Warnrufe würden mißachtet, ähnlich wie die der Kassandra, die vergeblich vor dem Untergang Trojas warnte, sind vor allem konservative Forscher eher vom Gegenteil überzeugt: Die Politik würde auf Warnungen oft überreagieren.

Forscher wie Reinhard Hüttl nennen das dann „negatives Kassandrasyndrom“: „Die Menschen schenken dieser Warnung Glauben und ergreifen verängstigt Gegenmaßnahmen – allein die Katastrophe tritt nicht ein.“ Das Problem: Milliarden Mark gingen in einseitige Mainstream-Forschung, die die Katastrophenprognose untermauern solle. Und spätere ernstzunehmende Warnrufe drohten überhört zu werden.

Ein Paradebeispiel für Hüttl, Bodenkundler an der TU Cottbus, ist das „sogenannte Waldsterben“. Für ihn ist es „zu einem beträchtlichen Teil ein Konstrukt“ einer unzulänglichen Waldschadenserhebung, die jährlich einen massiv geschädigten Wald vorspiegele. Und die Erhebung sei so mangelhaft, sekundiert Günter Keil vom Bundesforschungsministerium, weil sie von der Politik auf Druck von Umweltschützern „gegen wissenschaftliche Kritik schnell durchgezogen wurde“. Die wiederum seien unterstützt worden von den Medien, die Nachrichten sortierten, wie es ihnen passe: „Gute Wissenschaftler sind für die Medien die“, sagt Keil, „die schlechte Nachrichten bringen.“ Zweifelnde Forscher fänden dagegen kein Gehör.

Hüttl und Keil vertreten die klassische Medienschelte. Doch dieses einfache Weltbild, in dem es sich Forscher gerne gemütlich machen, stimmt nicht. Das ist jedenfalls die These eines anderen Wissenschaftlers, des Bielefelder Soziologen Peter Weingart. Seines Erachtens sind die Forscher ein Teil des kritisierten Systems: Weil die Wissenschaftler immer stärker um Forschungsgelder konkurrieren müßten, bemühten sie sich um möglichst große öffentliche Aufmerksamkeit. Die Folge: „Immer mehr Vorveröffentlichungen unter Umgehung der Überprüfung durch wissenschaftliche Journale“, sagt Weingart. „Immer mehr Forscher werden Medienstars und nutzen das auch.“ Es entstehe ein Diskurs, in dem sich die Forscher gegenseitig zu übertrumpfen versuchen, um in die Medien zu kommen. Bis ihnen „am Ende keiner mehr zuhört“. Themen wie das ökologische Risiko werden so zum „kommunikativen Risiko“: Wissenschaft gefährdet ihr Wahrheitsmonopol, die Politik ihre Legitimation und die Medien die Aufmerksamkeit der Leser.

Weingarts Lieblingsbeispiel ist der Treibhauseffekt. Das Phänomen wurde nicht erst von den Medien dramatisiert und politisiert, sondern von der Wissenschaft selbst: Anfang 1986 veröffentlichte der Arbeitskreis Energie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) eine erste Warnung vor der „Klimakatastrophe“ mit deutlich spürbaren Folgen „vermutlich schon in ein bis zwei Jahrzehnten“. Sie prophezeien einen möglichen Anstieg des Meeresspiegels von „fünf bis zehn Metern in mehreren hundert Jahren“.

Das war deutlich übertrieben, die Absicht dahinter war klar: In dem Arbeitskreis saßen überwiegend Kernphysiker, die der Atomkraft angesichts der gesellschaftlichen Widerstände aus der Legitimationskrise helfen wollten. Und tatsächlich schoben sie die Debatte in Deutschland entscheidend an. „Das waren keine Experten aus der Klimaforschung“, urteilt heute Klaus Hasselmann, Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg, „die haben ihren Wissenschaftlerstatus mißbraucht.“

Ein Jahr später korrigierte die DPG zwar ihren Arbeitskreis: Nun war nur noch von einer „Klimaänderung“ die Rede und einem Anstieg des Meeresspiegels von 0,3 bis 1,2 Metern in 100 Jahren. Das kostet Glaubwürdigkeit und hatte nach Beobachtung von Weingart auch politische Konsequenzen: „Durch den Aufruf der DPG wurde die Regulierungsdiskussion von vornherein in den Kontext der Kernenergiedebatte gestellt und daher auf die Kohlendioxid-Problematik verengt.“

Das heißt nicht, daß die Medien immer korrekt die wissenschaftliche Diskussion wiedergäben. Das können sie auch nicht. Wissenschaftler wünschen sich die Journalisten nach der Beobachtung von Medienforscher Otfried Jarren „wie eine gute Hifi-Anlage“: Was ins Mikro reingeht, soll aus den Lautsprechern laut und verzerrungsfrei wieder herauskommen. Doch die Medien orientieren sich weder an der Wissenschaft noch an der Politik; sie müssen solch schwer verständliche Themen herunterbrechen auf den Alltag ihrer Leser, dem Thema etwas Ereignishaftes geben, um Interesse zu wecken. Dabei kommt es zwangsläufig zu Vereinfachungen, Fehlern und natürlich auch Übertreibungen. Die Politik wiederum kann nicht warten, bis wissenschaftliche Erkenntnisse gesichert sind: Sie müssen trotz der Unsicherheit entscheiden.

Allerdings trifft der Vorwurf der Wissenschaftler zuweilen auch zu: Oft verstehen Journalisten die Zusammenhänge selbst zuwenig. Vor allem in der Klimadebatte werden immer wieder die völlig unterschiedlichen Phänomene Ozonloch, Ozonsmog und Treibhauseffekt durcheinandergebracht. Doch die Wissenschaftler sind eben nicht bloß Opfer dieses Mechanismus. Oft fördern sie selbst Mißverständnisse, um Schlagzeilen zu machen. Jüngstes Beispiel ist eine Presseerklärung des Fraunhofer Arbeitsgruppe für Toxikologie: „Kontamination der Elbe mit Haloether: Ursache für Leukämien in der Elbmarsch?“ lautete der Titel, der anknüpfen sollte an die öffentliche Debatte über Krebsfälle am Akw Krümmel. Die Spekulation entbehrte jeder Grundlage, brachte die Forscher, die lediglich Schadstoffkonzentrationen in der Elbe gemessen hatten, aber ins Gespräch.

Besonders in der Medizin hat sich dieses Prinzip bewährt. Hinweise auf Krebs oder auf Eigenschaften, die angeblich durch Gene vorgeprägt sind, bis hin zum Schwulen-Gen, Spekulationen über Jungbrunnen, die regelmäßige Behauptung der Aids-Forscher einen möglichen Durchbruch für einen Impfstoff gefunden zu haben, all das findet garantiert seinen Weg in die Schlagzeilen.

Vor Journalisten sprechen Forscher oft in drastischen Worten – werden sie später von Kollegen darauf angesprochen, gibt es die passende Ausrede, die immer zieht: „Der hat mich falsch zitiert.“ Eben die Ausrede, die wiederum das Vorurteil der Wissenschaftler gegen die Medien erhärtet.

Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft hat in Deutschland bereits während der Auseinandersetzung um die Atomkraft insbesondere in den siebziger Jahren beträchtlich gelitten, in der Risiken von den Forschern systematisch verschwiegen und verharmlost wurden. Aus dieser Zeit hat sich eine Konfrontation erhalten: Wissenschaftler werfen Umweltschützern und einem Teil der Medien gerne Angstkommunikation vor.

Doch das Argument der drohenden Katastrophe ist keineswegs eine Spezialität von Umweltbewegten. Was ihnen Klimawandel und Waldsterben, ist der Wirtschaft der Niedergang des Standortes Deutschland und die Rezession. Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat die heutigen Debatten nicht weniger stark im Griff als in den Siebzigern und Achtzigern die Furcht vor der Umweltzerstörung. Doch der Streit, ob eine nachfrageorientierte oder eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik die „Katastrophe für den Standort Deutschland“ verhindert, ist wissenschaftlich nicht zu entscheiden. Die Forscher sollten sich damit abfinden, daß andere das – trotz aller Unsicherheit – tun müssen.