: Die Reform des deutschen Wesens
■ Auf dem Weg zum Bürgerstaat (6): Am Umgang mit Minderheiten zeigt sich, was von der Demokratie in einer Gesellschaft zu halten ist
Als vor einigen Jahren im Ostteil Berlins ein Projekt zur bilingualen Ausbildung türkischer Jugendlicher startete, gab es neben großem Interesse auch heftige Bedenken. In den Osten gehe man nicht. Dort lebten nur Menschen, die uns nicht wollen, so die Jugendlichen.
Inzwischen haben die Auszubildenden gute und schlechte Erfahrungen gesammelt. Aber ein Eindruck ist geblieben: Die Wiedervereinigung hat ohne uns Migranten stattgefunden. Vom Westen aus hat nie jemand gesagt: „Liebe Landsleute im Osten, ihr vereinigt euch nicht nur mit den Westdeutschen, sondern auch mit fast sieben Millionen Menschen nichtdeutscher Herkunft.“ Und im Osten hat man schnell mit der Jagd auf diese sogenannten Ausländer begonnen. So ungestört und selbstverständlich, daß dies in vielen Gegenden als Norm akzeptiert wird.
Nun, so ist es jetzt. Und es gibt die „national befreiten Zonen“, deren Existenz von manchen bestritten werden. Aber jeder, der sich „Schwarzkopf“ oder „Kanake“ nennt, weiß es besser. Denn selbst wenn er oder sie ohne Bedrohung und körperliche Verletzungen das Dasein im Osten meistert wie die Berliner Auszubildenten Engin, Alisan, Dilek und Levent, die Betriebe im Osten besuchen müssen, bleibt noch immer die Botschaft der Ungleichwertigkeit. Dagegen fühlen sich manche nur gewappnet, wenn sie sich, wie Engin, auf ihre Ausflüge in den Osten bewaffnen. Das ist ein Indiz für das Unvermögen der Gesellschaft, den jungen Leuten ein ausreichendes Gefühl von Sicherheit zu geben. Das alles darf kein persönliches Problem der Migranten bleiben. Die Frage nach Gleichheit und Würde des Menschen ist das Prinzip der Demokratie schlechthin. Es verlangt, daß mit Minderheiten in einer Gesellschaft wechselnder Mehrheiten zivil und respektvoll umgegangen werden muß. Ansonsten gibt es keine freie Meinungsbildung, keine gesellschaftlichen Debatten, keinen Wechsel der Regierungen, sondern nur Angst und Kontrolle.
Wenn an Unterlegenen nach Belieben Rache genommen werden darf, dann müssen diese um ihre Integrität in jeder Hinsicht fürchten, muß jeder vermeiden, auf der Seite der Minderheit zu stehen. So ungefähr sah für Außenseiter die Realität in der DDR aus, die kein Rechtsstaat war und Minderheitenschutz nicht kannte. Diese Erfahrungen haben die Menschen dort geprägt. Wie lange auch im Westen die Demokratie braucht, um kulturelle und nicht nur parteipolitische Selbstverständlichkeit zu werden, wird an der jahrelangen Auseinandersetzung um „die Ausländer“ im allgemeinen und der erleichterten Einbürgerung im Detail deutlich. Deshalb ist es für den Westen wichtig und für den Osten essentiell, daß die Frage der Gleichwertigkeit von Menschen unterschiedlicher Herkunft endlich aus dem moralischen Diskurs, aus der beliebigen Verfügbarkeit für politischen Mißbrauch herausgenommen wird und durch ein Gesetz die Chance eines Eindringens in den Alltag erhält.
Gleichwertig und gleichberechtigt gehören untrennbar zusammen. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz mit der Option auf den doppelten Paß wird ein erster Schritt sein.
Auch Engin, Alisan, Dilek und Levent spüren, wie revolutionär das Reformvorhaben der erleichterten Einbürgerung ist. Leute, von denen sie ein Interesse an ihrer Situation nie vermutet hätten, schreien die Vertreter der CDU mit ihren Unterschriftenlisten an. Dilek lächelt voller Ironie, als sie davon erzählt. Sie mag diesen Ton des Streits auf der Straße nicht, er hat nicht allzuviel zu tun mit ihrer Lebenserfahrung, in der es haufenweise Diskriminierung und bisher wenig Empathie von deutscher Seite gab. Alisan findet die Möglichkeit der Einbürgerung toll. Und es ist schön, so meint er, daß es Deutsche gibt, die das jetzt auch wollen.
Daß die erregten Reaktionen auf die Unterschriftenkampagne der CDU, die ausländerfeindliche Stimmung vieler Unterzeichner ein letztes Aufbäumen der alten Republik sein soll, bevor sich Deutschland in seinem nationalen und kulturellen Selbstverständnis ein für allemal verändert, können diese Jugendlichen noch nicht annehmen. Aus ihrer Perspektive scheint es im Augenblick kaum vorstellbar, daß sie als Deutsche bald selbst politisch aktiv sein können, statt weiter Objekt der Betrachtung oder des Streits zu sein.
Dennoch amüsiert sie diese Vorstellung. Der Traum, daß fortan auch wer sich „Schwarzkopf“ oder „Kanake“ nennt echter Deutscher sein kann, bringt sie für einen Augenblick zu dem Schluß, daß dies auf längere Sicht eine größere Veränderung für Deutschland bedeuten könnte als die ganze Wiedervereinigung. Doch wird das neue Staatbürgerschaftsrecht wirklich soviel an ihrer Situation ändern? Nur einzelne aus der Gruppe von über hundert Auszubildenden werden nach Abschluß ihrer Lehre eine Arbeit bekommen. Jugendarbeitslosigkeit ist für alle ein Problem, für Deutsche wie für Türken. Daß der Staat hier nur halbherzig und phantasielos reagiert, sich in dieser Frage von Fachleuten wenig beraten läßt, ist schlimm genug.
Wenn jugendliche Ausländer mit weniger guten Schulabschlüssen, mit weniger Chancen auf eine normale berufliche Laufbahn zuerst arbeitslos werden und damit keine Möglichkeit auf Einbürgerung bekommen, ist das der Beginn einer besonderen Art sozialer Ausgrenzung. Sie wird mit dem Ausschluß aus der vagen Hoffnung, endlich dazuzugehören, verknüpft. Wer Sozial- oder Arbeitslosenhilfe empfängt, gehört nicht zu denen, die berechtigt sind, Deutsche zu werden. Die Schlußfolgerung: Du gehörst zur Unterschicht, du bist arbeitslos, du bist Türke – und du hast ebenso wie deine Kinder wenig Aussichten, jemals etwas anderes zu sein.
Wenn sich eine Gesellschaft leistet, auf Dauer Armut und ethnische Herkunft miteinander zu koppeln, und das per Staatsangehörigkeit noch zementiert, entsteht eine ethnische Klasse, die man leicht an Farbe und Inhalt des Passes erkennen kann. Engins Sorgen reichen nicht soweit in die Zukunft. Ihn bedrückt die Krise der Arbeitswelt insgesamt. Wenn er zu wählen hätte und es gäbe ein Entweder- Oder – entweder Arbeit für alle in Deutschland oder den deutschen Paß für die Schwarzköpfe –, er würde sich für Arbeit entscheiden.
Keiner der Anwesenden glaubt, daß sich je etwas ändert an der Diskriminierung und Schikane im Alltag, den pausenlosen Polizeikontrollen, den dummen Sprüchen und dem unverhohlenen Haß im Osten. Deshalb wollen sie alle ihren türkischen Paß behalten. Levent braucht ihn, weil er sich gegen diese Anfechtungen als Türke fühlen will, weil er es haßt, nur ausgeliefert zu sein.
Die doppelte Staatsbürgerschaft ist zwar nur ein Nebenkriegsschauplatz bei der Reform des deutschen Wesens, aber sie ist deshalb so heiß umkämpft, weil sie ein Symptom darstellt. Symptome kann man nicht verbieten, man kann nur ihre Ursachen diagnostizieren und zu beseitigen versuchen. In der Bundesrepublik wurde besonders unter der regierenden CDU der letzten 16 Jahre eine bigotte Einwanderungspolitik betrieben: Wir brauchen euch, aber wir wollen euch nicht. Deshalb lassen wir Einwanderung zu, nennen sie aber nicht so. Und wir behandeln alle, die hier sind, schlecht, damit nicht noch mehr kommen.
Damit wurde nicht nur die Atmosphäre im Land vergiftet, damit wurde ebenso eine unselige Tradition im Umgang mit Minderheiten in Deutschland fortgesetzt. Daß dies keine Moralkeule ist, sondern der normale Alltag, belegt die Notwendigkeit scharfer Sicherheitskontrollen an allen jüdischen Einrichtungen in Deutschland. Die antisemitischen Anschläge und Straftaten nehmen ebenso zu wie der Haufen von Drohbriefen auf dem Tisch irgendeines Vorstandsmitglieds irgendeiner beliebigen jüdischen Gemeinde. Und wenn man dort nach der doppelten Staatsbürgerschaft fragt, dann findet man viele, die sie bereits haben. Denn Gott sei's gedankt gibt es Israel.
Das Problem der Juden ist nicht ihre geteilte Loyalität für Deutschland. Ihr Problem ist, genau wie für die jungen Türken, die Furcht vor der halben Loyalität Deutschlands ihnen gegenüber und all den schrecklichen Folgen daraus, für die dieses Land keine Fantasybilder braucht, sondern nur einen Blick ins Geschichtsbuch. Anetta Kahane
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen