piwik no script img

Wettkampf der Gebeutelten

Gegenwart? Welche Gegenwart? Michel Houellebecq erzählt von Einsamkeit, Isolation und verzweifelter Sexbesessenheit. In Frankreich machte er damit einigen Skandal. Sein erster Roman erscheint jetzt unter dem Titel „Ausweitung der Kampfzone“ auf deutsch  ■ Von Reinhard Krause

Ein Mann kann nach einer Party sein Auto nicht finden. Nach langer Suche hat er eine Idee. Er meldet es als gestohlen. „Wenn einer zugibt, daß er seinen Wagen verloren hat, erklärt er praktisch seinen Austritt aus dem Gemeinwesen; Diebstahl klingt entschieden besser.“ Man ahnt: Mit diesem Helden aus Michel Houellebecqs Erstlingsroman kann es kein gutes Ende nehmen. Und tatsächlich, am Schluß von „Ausweitung der Kampfzone“ wird der namenlose Ingenieur und Informatikfachmann am Abgrund angekommen sein.

Zunächst sind es nur kleine Irritationen, die dem Angestellten einer Pariser Softwarefirma zusetzen, zermürbende Kontakte mit unangenehmen Geschäftspartnern, Unzufriedenheiten der Vorgesetzten. Als er schließlich mit seinem überaus unansehnlichen und – aufgrund mangelnder Erfahrung – sexbesessenen Kollegen Raphaäl Tisserand auf Dienstreise geschickt wird, kommt es zur Krise. Erst erkrankt der Erzähler an einer Herzbeutelentzündung, später muß er sich in eine Nervenklinik begeben. Von seiner Umwelt fast vollständig isoliert, seit ihn vor zwei Jahren seine letzte Freundin verlassen hat, bleibt ihm als einziger privater Kontakt ein Jugendfreund, ein verkrachter Priester. „Morgen muß ich die Messe lesen“, offenbart der sich eines Abends. „Ich glaube, ich schaffe es nicht. Ich fühle die Gegenwart nicht mehr.“ „Welche Gegenwart?“ fragt der Informatiker. Wettkampf der Gebeutelten.

Er ist also wieder da, der nervöse blasse Antiheld in der Tradition von Kafka und Camus, der an der Rigidität seiner Selbstwahrnehmung allmählich zu zerbrechen droht. „Es wundert mich, daß ich erst dreißig bin“, läßt Houellebecq, selbst inzwischen vierzig, sein literarisches Ich sinnieren. Der Leser wundert sich mit, auch wenn ihm gegen Ende des Romans die ebenso banale wie plausible Diagnose „akute Depression“ präsentiert wird. Doch was ist schon von einem Psychologen zu halten, der Dr. Népote heißt? Eben. Der Erzähler jedenfalls sieht sich in diesem einen Punkt dann doch ganz auf der Höhe seiner Zeit: „Müßte ich den geistigen Zustand unserer Zeit in einem Wort zusammenfassen, ich würde unweigerlich dieses wählen: Verbitterung.“

Daß „Ausweitung der Kampfzone“ dieser mehr als getrübten Stimmung zum Trotz keineswegs zum männlichen Remake von „Bonjour tristesse“ wurde, sondern zu Frankreichs literarischer Sensation des Jahres 1994, verdankt der Roman zum einen der Freude seines Autors am gezielten Tabubruch: Wegen eines Kapitels, in dem der Informatiker seinen verzweifelten Kollegen zum Sexualmord animiert, wurde „Extention du domaine de la lutte“ in Frankreich kontrovers diskutiert.

Vor allem aber bestechen Houellebecqs Montagetechnik und sein bisweilen grausamer, bisweilen tieftrauriger Humor. Philosophische Betrachtungen fließen als groteske Tierfabeln in die Handlung ein und werden verwoben mit nicht minder abenteuerlichen Geschichten wie der von Brigitte Bardot. „Ich möchte Ihnen nun von einem armen Mädchen namens Brigitte Bardot erzählen. Ja, wirklich. In meine Abschlußklasse ging ein Mädchen, das Bardot hieß, weil auch ihr Vater so hieß. Er war Eisenwarenhändler in der Nähe von Trilport. Seine Frau arbeitete nicht; sie führte den Haushalt. Diese Leute gingen fast nie ins Kino, und ich bin sicher, daß sie es nicht absichtlich taten. Als ich sie in der Blüte ihrer siebzehn Jahre kennenlernte, war Brigitte Bardot von abstoßender Häßlichkeit.“

Diese Brigitte Bardot ist das weibliche Pendant zum froschgesichtigen Raphaäl, einem weiteren erotischen Totalausfall, wie der Erzähler mit einer Mischung aus Ekel und leisem Mitleid konstatiert. Das perfekte Opfer für ein jugendliches Experiment. Natürlich reagiert auch sie, die Häßlichste von allen, auf vorsichtige Avancen. Nach einem keuschen Kuß – das Experiment ist damit abgeschlossen – wird sie nicht mehr beachtet. „Trotz der Lawine der Erniedrigung, die gewöhnlich ihr Leben bestimmte, hoffte und wartete Brigitte Bardot. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hofft und wartet sie wahrscheinlich noch immer. Eine Viper hätte sich an ihrer Stelle bereits umgebracht. Die Menschen trauen sich zuviel zu.“

Anders als neuere deutsche Autoren interessiert sich Houellebecq nicht für Popästhetik, lieber liefert er soziale Befunde, was ihm die Bezeichnung „realistischer“ Schriftsteller eingetragen hat. Die titelgebende Kampfzone ist der Wirtschaftsliberalismus, ihre Erweiterung der Bereich des sexuellen Marktwerts. Ebenso, wie es ein ökonomisches Proletariat gibt, lautet Houellebecqs Theorem, gibt es auch ein sexuelles Proletariat. Eine originelle Idee, loben die einen, die anderen nennen den Autor einen sexbesessenen Pessimisten.

So groß die Anerkennung für „Ausweitung der Kampfzone“ in Frankreich auch war, der Roman wäre womöglich in Deutschland gar nicht erschienen, hätte Houellebecq nicht im vergangenen Jahr mit dem zweiten Roman einen noch größeren, gleich doppelten Skandalerfolg erzielen können. Der kleinere Skandal bestand darin, daß sich ein französisches Nudistencamp in „Les particules élémentaires“ verspottet fühlte und – erfolglos – eine millionenschwere Schmerzensgeldklage anstrengte. Schwerer wog die literarische Kontroverse, die der Roman auslöste. Das französische Magazin Les Inrockuptibles nannte den Roman bereits die Mao-Bibel der sexuellen Gegenrevolution. Die Redakteure der Literaturzeitschrift Perpendiculaire mochten sich mit den Phantasmagorien ihres Kollegen weniger anfreunden und feuerten ihr berühmtes Redaktionsmitglied. Die Vision einer Zukunft, in der das Sexualleben technokratisch verwaltet und die Reproduktion allzu wörtlich genommen wird, war der Zeitschrift allzu affirmativ beschrieben.

Trotz seiner Neigung zum Desaströsen hat Houellebecq aber auch den Weg in die Popkultur gefunden. Gerade erschien in Frankreich eine CD der Gruppe Le tone mit dem Titel „Expression du domaine de la lutte“: TripHop-Easy- Listening mit Menschenaffengekreisch. Noch überraschender ist die Meldung, daß Mitte März ein Sampler erscheint, auf dem Houellebecq höchstpersönlich ein Liedchen zum besten gibt. Veröffentlicht wird die Platte von Tricatel, Frankreichs derzeit charmantestem Kleinstlabel. Seinen Namen verdankt es dem Tricatel- Konzern, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die französische Eßkultur mit synthetischer Nahrung zu unterwandern – eine Erfindung aus dem Louis-de-Funès-Film „Brust oder Keule“. Lauter konspirative Zirkel?

Michel Houellebecq: „Ausweitung der Kampfzone“. Roman. Aus dem Französischen von Leopold Federmaier. Wagenbach Verlag, Berlin 1999, 160 Seiten, 32 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen