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Reif für die Insel!

Wie die Deutschen reisen lernten. Mit dem Gogomobil über die Alpen, mit dem Jumbo in die Dominikanische Republik. Die Geschichte des Reisens ist auch eine Industriegeschichte. Teil VII der Reihe „Fünfzig Jahre neues Deutschland“  ■ Von Christel Burghoff und Edith Kresta

Niemand wandelt ungestraft unter Palmen, heißt es, und wer einmal am Süden nascht, ist dem Tourismus verfallen. Dieser Sog des Südens zieht in den fünfziger Jahren die Deutschen nach Italien. Die klassischen Bildungsreisenden, auf den Spuren Goethes, waren die Pioniere. Nun kommen die Urlauber und mit ihnen das Italienfieber: Capri-Hosen werden Mode, Hausfrauen tauschen Spaghettirezepte aus, die italienische Korbflasche mit Tropfkerze fehlt in keinem Partykeller. Deutsche Schlager strotzen vor Italiensehnsucht: „Komm doch einmal mit nach Italien“, „Caprifischer“ oder „Zwei kleine Italiener“. Verheißungsvolle Filmtitel wie „Blond muß man sein auf Capri“ oder „Mein Schatz, komm mit ans blaue Meer“ locken die Deutschen in die Kinos und über die Alpen. Mit Italien verknüpfen sich Wunschvorstellungen von Dolce Vita und Liebesabenteuer. Rolf Thieles Film „Man nennt es Amore“ vermischt Elemente der klassischen Bildungsreise mit dem erotischen Getümmel deutscher Touristinnen und italienischer Jünglinge am Ferienstrand. Italien streichelt die Sinne.

Die ersten Italienreisenden nach dem zweiten Weltkrieg organisieren alles noch selbst. Mit Fahrrad, Motorroller oder dem Gogomobil überqueren sie die Alpen. Die Einreise in das Land der Papagalli ist noch schwierig. Man benötigt ein Visum, erste Erleichterungen für den Grenzverkehr gibt es 1956, ab 1958 können Devisen uneingeschränkt eingeführt werden, für den Grenzübertritt genügt nun der Personalausweis. Aufgrund der knappen Urlaubskassen campen noch viele Urlauber wild. Hauptattraktion der Urlaubsreise ist nun nicht mehr die Kultur, sondern der Strand. Knackig braun heimzukommen wird Reisesouvenir Nummer eins. Abschalten und Entspannen, Sonne, Sand und Sex, stehen fürderhin ganz oben auf der Urlauberwunschliste.

Manch verschlafenes Fischerdorf macht eine rasante Entwicklung: Marina di Massa am Golf von Genua etwa hat 1950 noch kein einziges Gästebett, 1956 sind es achthundert, 1961 bereits siebentausend. Ende der fünfziger Jahre organisieren deutsche Reiseunternehmen wie Scharnow, Hummel, Dr. Tigges die ersten Pauschalreisen.

In den sechziger Jahren geht es erst richtig los, denn auch Spaniens Sonne lacht. Wenn auch nur an den Küsten, weit weg von Generalissimo Francos Terrorregime. Franco wittert die Devisen der Nordländer und betreibt den Ausbau abgeschotteter Anlagen an den Küsten. Das spanische Hinterland bleibt für die Urlauber „Feindesland“, in dem es vor düsteren Vertretern der Guardia Civil wimmelt. Mit der Erschließung Spaniens zum Urlaubsland wird konsequent ausgeführt, was sich im Italienurlaub schon anbahnte: die Entwicklung von der Bildungsreise zum Erholungsurlaub am Strand und die Wandlung der Reise vom selbstorganisierten Abenteuer zum „Rundum sorglos“-Paket der Pauschalanbieter.

Seit Ende der fünfziger Jahre gehören Auto und Urlaubsreise zum Lebensstandard. Das Wirtschaftswunder hat die Deutschen erfolgreich sozialisiert: Man gönnt sich was als gerechten Lohn für die harte Arbeit am Wiederaufbau. Und das Auto wird zum Symbol für Leistung und Wohlstand. Zu jedem Ferienbeginn wälzen sich nun Blechlawinen gen Süden. Das Motto: Wir sind wer, weil wir Geld haben. Und weil wir Geld haben, nehmen wir die Verheißungen der schönen neuen Urlaubswelten ernst. Und diese Urlaubswelten schießen wie Pilze aus dem Boden.

Nach den beschaulichen Zeiten touristischen Aufbruchs formiert sich eine schnell wachsende Tourismusindustrie. Rimini, Benidorm, Mallorca sind ihre Symbole. Ab 1953 bietet Dr. Tigges kombinierte Bahn- und Flugreisen nach Mallorca an. Deutschland erlangt 1955 seine Lufthoheit wieder, ab 1956 gibt es bereits vier Charterfluggesellschaften mit insgesamt zwölf Maschinen, die Mallorca direkt anfliegen. 1971 setzt Condor (die Ferienflugtochter der Lufthansa) eine Boeing 747 ein, ihr Ziel: Palma de Mallorca. Die Maschine kann 366 Passagiere befördern. Stewardessen in Hot pants wecken Ferienstimmung. Und die suchen nun immer mehr Deutsche: 1975 fliegen sieben, 1995 dreizehn Millionen Urlauber mit Chartermaschinen auf die Insel. Spaniens Küsten werden mit Betonburgen überzogen.

Die Zahl der Urlauber, die sich eine Auslandsreise leisten können, nimmt immer mehr zu: Zwischen 1960 und 1970 steigt die Zahl der Touristen von 11,8 auf 18,5 Millionen, oder von 28 Prozent der Bevölkerung auf 41,6 Prozent. Fahren 1960 erst drei Millionen Urlauber über die Grenze, sind es 1970 bereits zehn Millionen. 1963 kommt Neckermann auf den Markt und prägt das Bild vom deutschen Touristen nachhaltig. Wesentliche Voraussetzung dieser touristischen Expansion ist die technische Entwicklung: War es ehemals die Eisenbahn und später das Automobil, so wird in den sechziger Jahren das bis dahin einer kleinen Minderheit vorbehaltene Flugzeug zum Massenverkehrsmittel der Urlauber. Die Demokratisierung des Reisens verdankt sich vor allem der technischen Innovation.

Der massenhafte Reiseboom macht aus aufstrebenden Reiseveranstaltern Großkonzerne. Die Konzentration nimmt zu. Heute spaltet sich der Markt in zwei große Lager: Das rote Lager mit TUI, LTU, DER, Hapag Lloyd und – ganz neu – L'tours; und das gelbe mit NUR und Condor, kurz: C & N Touristik.

Die Aufbauaktivitäten der Nachkriegszeit knüpfen bruchlos an ein gern heruntergespieltes Vorkriegsintermezzo an: die nationalsozialistische Freizeitorganisation KdF, „Kraft durch Freude“. Zwischen 1934 und 1939 organisierten die Nazis immerhin schon 43 Millionen Reisen. Ihren kriegerischen Eroberungszügen schickten sie das Gruppentraining und die Inspektion germanischer „Rasse“-Stätten voraus: Legendär die Nordlandfahrten mit gemeinschaftlichem, völkischem Erschauern an den Grabstätten göttlicher Ahnen. Noch im Bau stehende touristische Massensilos wie etwa Prora auf Rügen wurden danach umstandslos zu Kasernen umgewandelt. Heute werden sie wieder für den Tourismus feilgeboten.

Denn auch im modernen Tourismus triumphieren die industriellen Fertigungsmethoden der Massenproduktion. Die abgeschlossene Großanlage ist das Konzept, mit dem sich der industrielle Großtourismus durchsetzen läßt und durchgesetzt hat: Nach erfolgreicher Erprobungsphase an europäischen Sonnenstränden entdeckt dieser Großtourismus neue Destinationen. Die Dritte Welt darf nun mitspielen. Tunesien wird zu einem zweiten Mallorca ausgebaut, Thailand zum einschlägigen Treff für Freier jeder Art, Kenia lockt Großwildjäger. Wie der Tourismus sich einer Region bemächtigt, zeigt prototypisch die Dominikanische Republik: Innerhalb weniger Jahre wurde sie als billigstes All- inclusive-Ressort aufgerüstet. Tourismus ist die Wachstumsindustrie weltweit. Seit 1960 wächst sie doppelt so schnell wie die Volkswirtschaften in den Industrienationen. Drei Viertel aller Deutschen verreisen heutzutage regelmäßig. 1971 war es erst knapp die Hälfte der Bevölkerung.

Inspiriert von der 68er-Bewegung und Flower Power ziehen in den siebziger Jahren die sogenannte Alternativtouristen mit Rucksack und wenig Geld, dafür um so mehr Love und Peace in die Welt. Sie wollen vor allem Individualität, Abenteuer und Abgrenzung von den standardisierten Angeboten der Reiseindustrie. Aus dem breiten, linken Umfeld dieser Alternativen erwächst die Tourismuskritik, die den jährlichen Massenauszug als selbstzerstörerische, gesellschaftliche Veranstaltung anprangert. Die Kritik richtet sich gegen ungleiche Weltmarktbedingungen, gegen Vermarktung der Reisewünsche, gegen die rücksichtslose Zerstörung von Natur und Kultur. Verteidigt werden die positiven Seiten des Reisens wie Welterfahrung, Begegnung mit der Fremde, sinnliche Erfahrung und Erlebniskraft. Mit bescheidenen Aktionen und ebenso bescheidenen Veröffentlichungen erkämpft sich beispielsweise die „Gruppe Neues Reisen“ einen Platz in den Reisefeuilletons. Der „Studienkreis für Tourismus“ untersucht die Folgen des Ferntourismus und stellt die allseits gepriesenen Segnungen des Tourismus in Frage. In der Schweiz gründet sich ein Arbeitskreis zum Dritte-Welt- Tourismus. Engagierte kirchliche Gruppen machen sich in Zusammenarbeit mit Initiativen der Dritten Welt zum Sprachrohr der ungefragten Gastgeber.

Die Öffentlichkeit wird aufmerksam. Sogar auf dem touristischen Forum der Superlative, der „Internationalen Tourismusbörse“ in Berlin, findet die 1988 gegründete Dachorganisation „Tourismus mit Einsicht“ Gehör.

Nach und nach verdrängt in der kritischen Bewegung ein pragmatischer Aktionismus die gesellschaftskritischen Inhalte: Modelle für „sanftes“ Reisen werden entwickelt, der Begriff inflationär vermarktet. Ökologische Reiseformen entstehen; selbst im Großtourismus gibt man sich umweltbewußt und entwickelt Strategien, in denen sich das Ökobewußtsein der deutschen Öffentlichkeit spiegelt. Gleichzeitig entwickeln die Reiseriesen immer skurrilere Erlebnisformen. Etwa „All inclusive“: Hier wird der Urlauber rundum versorgt, abgeschottet, animiert, zugeschüttet mit Alkohol und Zigaretten. Auch die Trinkgeldfrage wird ihm abgenommen.

Die Deutschen, gibt der Spiegel angesichts der weltweiten Reiselust zu bedenken, sind zutiefst „hedonistisch und verantwortungslos“ geworden. Sie lassen sich gehen und spaßen „infantil bis in die Nacht in Ferienclubs“. „Statt die konfliktreiche Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu riskieren“, so der Spiegel, „geraten immer mehr Menschen in die narzißtische Falle einer Scheinwelt, in der sich diffuse Ängste und entgrenzte Potenz- und Allmachtsphantasien abwechseln. Dazwischen: Abgründe innerer Leere.“ Über allem drohe „die Ich-Hölle einer radikal-innerweltlichen Konsumgesellschaft“. Was in den fünfziger Jahren so fröhlich bei der Fahrt im Gogomobil über Alpenpässe begann, ist nun vollbracht, die Metamorphose des deutschen Untertans vom dienstbeflissenen, autoritätshörigen Büttel zum willigen Konsumenten.

Der Traum vom Süden wird nun in exotisch aufgepeppten Ferienanlagen befriedigt, der Wunsch nach Dolce Vita strebt in der Grinsewelt von Animateuren neuen Höhepunkten entgegen. Und weil das organisierte Paradies leicht und schnell und billig zu haben ist, werden die Angebote massenhaft angenommen. Das wahre Erlebnis ist der Konsum. Und Konsum ist Erlebnis. Die TUI, Deutschlands größter Veranstalter, weiß es längst: „Glück ist käuflich“, so ihr Werbespruch.

„Erlebnis ist das Schlüsselwort des modernen, des effizienten, des erfolgreichen Tourismus: Der Sport wird zum Erlebnis, die Bildung, das Shopping, die Hotelübernachtung; und für die kulinarischen Bedürfnisse sorgt die Erlebnisgastronomie. Alle Erlebnisse sind genormt und kollektiv, und kunstvoll inszeniert,“ so die katholische Thomas Morus Akademie. Ein Erfolgskonzept – selbst in Zeiten existentieller und materieller Verunsicherung ist der Ansturm auf deutsche Reisebüros ungebrochen.

Der Theoretiker der modernen Erlebnisgesellschaft, Gerhard Schulze, schreibt: „Es gibt ja viele Menschen, die durch Erlebnisangebote so geschwächt sind, daß sie gar nicht mehr anders können als darauf zurückzugreifen.“ Wir sind urlaubsreif!

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