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Ästhetik ohne Widerstand

Er ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Sie die unbekannte Schwester. Er konnte nur in Opposition zu dem übermächtigen Elternhaus seine Kunst entfalten. Sie löste sich erst spät, schon im schwedischen Exil lebend, von der Familie, um an ihrer Karriere als Tanztherapeutin zu arbeiten. Peter Weiss und Irene Weiss-Eklund. In den Lebensläufen der ungleich prominenten Geschwister spiegelt sich die deutsch-jüdische Geschichte dieses endenden Jahrhunderts. Das Portait einer Künstlerfamilie  ■ von Jutta Rosbach

Das Bild von Bruder und Schwester ist unübersehbar. Überlebensgroß flankiert es den Sessel, in dem Irene Weiss-Eklund Platz genommen hat. Auf dem Geschwisterbild lehnt der Knabe im Matrosenanzug mit dem Rücken zur Tür. Die kleine Schwester im weißen Kleid, mit Haarschleifchen und Puppe, steht seitlich im Vordergrund. Ein heiterer Blickfang gegen den vergrübelten Buben im Hintergrund. Auch in Wirklichkeit ist Irene Weiss-Eklund aus Peter Weiss' Schatten getreten. „Sitze ich so richtig?“ fragt sie, als würde sie jeden Tag in ein Aufnahmegerät sprechen. Noch einmal stößt sich die Achtundsiebzigjährige mit vogelhafter Leichtigkeit aus dem Sessel, um den TV-Apparat auszuschalten.

Dann ist sie bereit. Zu erzählen von ihrer erstaunlichen Emanzipation. Und von ihrem Leben überhaupt, in dem sich die deutsch-jüdische Geschichte dieses Jahrhunderts kristallisiert.

Bis jetzt waren Irenes Lebenserinnerungen Privatsache. „Återblick“ (“Rückblick“) ist eine dreihundert Seiten starke Familienchronik, noch unveröffentlicht. Begonnen Anfang der achtziger Jahre, nach zwei Schicksalsschlägen. Schreibend hat sich Irene Weiss-Eklund damals aus einer „nachtschwarzen Depression“ herausgearbeitet. „Återblick“ ist ohne literarischen Anspruch geschrieben, aber von einer beeindruckenden Lebendigkeit.

Eine echte Fundsache, denn Irene Weiss-Eklund legt viel offener als Peter Weiss, etwa in seinen autobiographischen Romanen „Fluchtpunkt“ und „Abschied von den Eltern“, Zeugnis ab über die Verdrängungen und Schattenseiten dieser Emigrantenfamilie. Vielleicht, weil er sich früh abnabelte, wogegen sie, typisch weiblich, im Zentrum der häuslichen Gemengelage blieb.

Schon als Vierzehnjähriger empfindet Peter es als unter seiner Würde, noch mit den jüngeren Geschwistern Irene, Margit und Alexander zu spielen. Sein Zimmer ist für die Kleinen tabu. Im Hause Weiss hat der Älteste die Außenseiterrolle.

Unumschränkte Herrscherin der Familie ist Frieda, die Mutter. Eine stattliche Frau mit brennenden Augen und einem ungestümen Temperament. Aus ihrer ersten Ehe mit einem Düsseldorfer Baumeister hat sie zwei Söhne: Arved und Hans. Als geschiedene junge Schauspielerin trat sie am Deutschen Theater von Max Reinhardt in Berlin auf. In der Familienchronik klebt ein Foto aus dem Jahre 1910. Es zeigt Frieda als dramatisch in die Ferne blickende Äbtissin in dem Theaterstück „Das Mirakel“. Fritz Murnau gehört zu ihren Verehrern.

Aber das Rennen machte ein anderer: Eugen Weiss, genannt Jenö. Ein jüdischer Kaufmann ungarischer Herkunft, mit tschechischem Paß. Obwohl bereits verlobt, sitzt er täglich im Theater. Für die Liebe zu Frieda kappt er alle Kontakte zu seiner Familie. Ein paar Jahre später läßt er sich taufen, zusammen mit der neugeborenen Irene. Den Kindern wird die Abstammung des Vaters verschwiegen, ihre Großmutter lernen sie nie kennen. Die Mutter betet mit den Kindern das Vaterunser und lehrt sie sämtliche Weihnachtslieder. Als die Lehrerin nach der Religionszugehörigkeit fragt, kriegt Irene einen Zettel mit: „Protestant“ steht darauf zu lesen.

Wie das Judentum des Vaters wird auch die Künstlerkarriere der Mutter verdrängt. Ein stilles Abkommen, das zur Belastung gerät. Frieda erklärt zwar gern, Kinder und Küche der Kunst vorzuziehen, ihre periodisch auftretenden depressiven Schübe und ihre plötzlichen Wutausbrüche sprechen allerdings eine andere Sprache. „Ihrer herrschsüchtigen Art hatte sich jeder zu fügen“, sagt Irene Weiss-Eklund.

Irenes Kindheit endet am 31. August 1934, kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag. An diesem Tag wird Margit, die geliebte jüngere Schwester, auf der breiten Berliner Heerstraße überfahren. Irene ist die einzige Zeugin: „Sie stand an der Trottoirkante und hat ein bißchen mit dem Fuß gewippt und dabei das Gleichgewicht verloren.“ Irene steht etwa drei Meter entfernt. Sie hört Bremsen quietschen, einen dumpfen Schlag. Dann liegt Margit leblos auf dem Asphalt. Irene kann keinen Laut von sich geben. Der Schock ist zu groß. Ihr älterer Stiefbruder Arved fährt sie zur Polizei, wo sie, notdürftig beruhigt, herausstammeln muß, was sie gesehen hat.

Zu Hause kümmert sich niemand um sie. Frieda und Jenö sind so in ihrem Schmerz um Margit befangen, daß sie ihre anderen Kinder schlicht vergessen. Peter, als fast Achtzehnjähriger, genießt immerhin das Privileg, mit den Eltern und den älteren Brüdern ins Krankenhaus gehen zu dürfen, wo Margit kurz darauf stirbt. In „Abschied von den Eltern“ gibt er später seiner Beziehung zu der toten Schwester einen erotisch-inzesthaften Anklang: „Während Margit mit ihrem unheimlichen Geliebten rang, malte ich mein erstes großes Bild.“

Die Fotos aus dem Sommer 1934 zeigen die zwölfjährige Margit als Teenager mit sehr weiblichen Reizen. Über die schwüle Darstellung erotischer Geschwisterliebe lächelt Irene nachsichtig: „Reine Phantasie. Er hat sich doch gar nicht um uns gekümmert.“

Für Irene fühlt sich Margits Tod so an, als hätte sie ihre andere Hälfte verloren. Die beiden Mädchen, nur anderthalb Jahre auseinander, waren beinahe wie Zwillinge aufgewachsen, stets in einem Atemzug gerufen worden. Im gemeinsamen Zimmer sind noch Margits Kleider, Spielsachen und Bücher verstreut. Nebenan im Elternschlafzimmer hört Irene die Mutter. Sie weint nicht, sie schreit wie ein Tier. Der Trost einer gemeinsamen Trauer bleibt Irene versagt: „Jeder lebte in seinem eigenen Chaos.“ Peter vergräbt sich bei seinen Bildern, Alexander spielt noch mit seinen Autos.

Ihr Leben lang wird die Überlebende unter der Angst leiden, einen nahestehenden Menschen zu verlieren. Dazu kommt ein noch schlimmeres Gefühl: die erstickende Befürchtung, daß mit Margit für die Eltern die bessere Hälfte des Geschwisterduos starb.

Ein halbes Jahr später siedelt die Familie nach England über. Die Gefahren des Nationalsozialismus werden mit den Kindern nicht diskutiert. Der Weg ins Exil sieht aus wie ein Umzug: „Um über Margits Tod zu hinwegkommen“, lautet die familieninterne Losung. Ihren Weg ins Gedächtnis gebahnt haben sich die kleinen Details des Abschieds. Am letzten Tag in der Schule lernt Irene noch ein Gedicht: „Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte...“ Die alte Dame kann es noch heute auswendig.

Die Weissens beziehen in Chislehurst bei London ein Haus. Jeden Morgen fahren Vater Jenö und Peter mit dem Achtuhrzug nach London ins Büro. Aber es gelingt ihnen nicht, Fuß zu fassen. Seit dem Tod seiner Tochter hat Jenö ein krankes Herz. Und Peter haßt die Bürotätigkeit, die ihm nur abends Zeit für die Malerei läßt. Und noch etwas zeigt sich. Peter taugt nicht als Stammhalter. Schon in England kündigt sich an, daß sich seine Künstlerkarriere nur in Opposition zur Familie entwickeln wird. Ästhetik im Widerstand.

1937 zieht die Familie ins Sudetenland, wo Jenö Weiss das Angebot angenommen hat, Direktor einer Samtfabrik zu werden. Ein höchst gefährlicher Ausweg, um das Heimweh zu bekämpfen. Doch die tschechische Staatsangehörigkeit hat die Familie Weiss durch den Vater sowieso, obwohl keines der Kinder Tschechisch spricht. Nach der Besetzung des Sudetenlandes, 1938, ist Jenö in Gefahr. Er muß schnellstens weg. Diesmal fällt seine Wahl auf Schweden, wo er Geschäftsfreunde hat. Erst die unmittelbare Lebensgefahr zwingt die Eltern Weiss dazu, ihren fast erwachsenen Kindern reinen Wein über die Abstammung des Vaters einzuschenken.

„Wir haben stark reagiert“, sagt Irene Weiss-Eklund. Mit einem Schlag ist ihre ganze Existenz in Frage gestellt. Selbst die Beziehung zu den älteren Stiefbrüdern und zu den anderen Verwandten in Deutschland scheint plötzlich fragil.

Auch mit dieser zweiten großen Krise ihrer Familien muß die junge Irene alleine klarkommen. Zuerst flieht der Vater, dann folgen Mutter und Brüder. Irene muß als Internatsschülerin einer Hauswirtschaftsschule in Brno, damals Brünn, zurückbleiben.

In den frühen Morgenstunden des 15. März 1939 erwachen sie und ihre Mitschülerinnen vom Gedröhn deutscher Militärstiefel. „Es war eine Totenstille“, sagt Irene.“ Es war fünf oder sechs Uhr morgens, und alle Leute standen herum auf den Straßen. Manche haben geweint.“ Vollkommen gelähmt lassen die Tschechen die Landnahme der Deutschen über sich ergehen. Im Internat ist Irene von Stund an isoliert. Für die tschechischen Mädchen ist sie Luft, weil sie nur Deutsch kann und aus dem Land der Besatzer kommt. Mit den weißbestrumpften deutschen Kameradinnen, die „Heil Hitler“ rufen, kann sie auch nicht reden. Mit einem Schlag hat sie ihre sozialen Bezüge verloren. „Keiner meiner Brüder war je in einer solchen Situation“, sagt Irene.

Mit einem Militärtransport gelingt ihr im August 1939 die Ausreise in Richtung Göteborg. Sie ist das einzige Mädchen unter Soldaten der Besatzungsmacht. Vor dem Kontrolleur gibt sie sich als Schwedin aus. „Geben Sie mal was auf Schwedisch zum besten“, fordert ein hoher Offizier. Die Achtzehnjährige sprudelt alles heraus, was sie sich in den Wochen vorher beigebracht hat. „Na, ist ja gut“, sagt der Offizier und läßt sie gehen. Daß die Reise statt in Göteborg auch in Theresienstadt hätte enden können, wird der jungen Frau erst viel später klar.

In Alingsas, einer Kreisstadt östlich von Göteborg, hat die Familie ein neues Heim gefunden. Bei „Silfa“, Jenö Weiss' neuer Textilfirma, arbeiten dreihundert Menschen. Auch die Kinder werden angestellt: Peter als Musterzeichner, Irene als Assistentin. Die Schweden sind ihr sehr fremd. Im englischen Club sucht sie Anschluß.

Eines Tages verbeugt sich ein gutaussehender Mann mit blonder Haartolle vor ihr: „Do all girls from Czechoslovakia look so romantic?“ Sehen alle Mädchen aus der Tschechoslowakei so romantisch aus: So beginnt die Bekanntschaft zwischen Irene Weiss und Gunnar Eklund. Die Eltern sind vom neuen Freund der Tochter alles andere als angetan. Ein Postbeamter paßt nicht zu Fabrikantens. „Mit diesem Mann kannst du nicht umgehen, das muß aufhören“, verordnet die Mutter. Um die Beziehung zu beenden, kommandieren die Eltern die Frischverliebte ab als Haustochter in eine andere Stadt.

Irenes Freundschaften waren in den Augen der autoritären Altvorderen schon öfter nicht sehr schicklich. Auch eine frühere Beziehung zu einem jüdischen Freund mußte sie auf väterlichen Druck abbrechen. Diesmal aber läßt sie sich nicht dreinreden. Sobald sie das 21. Lebensjahr erreicht hat, heiratet sie Gunnar, trotz aller Kräche. Sogar Peter Weiss, der mittlerweile in Stockholm lebt, fällt bei einem Besuch die Aufmüpfigkeit der sonst so zurückhaltenden Schwester angenehm auf. Schließlich kapitulieren die Eltern und bieten dem Schwiegersohn eine Stelle als Abteilungsleiter an. Eine konfliktträchtige Konstellation.

Außerdem hat es Irene mit dem untrüglichen Instinkt der freiheitssuchenden Tochter geschafft, sich in Gunnar einen Mann zu suchen, bei dem sie auf genau das stößt, was sie hinter sich lassen wollte: autoritäres Verhalten und Kritik. Kurz hintereinander bekommt sie drei Kinder: Stig, Jan und Karin. Jeden Abend fährt Gunnar bei seinen Eltern vorbei, um nach ihnen zu sehen.

„Wie oft“, schreibt Irene einer alten Freundin „hätte ich gern die Koffer gepackt, um zu türmen. Aber wohin?“ In 53 Jahren Ehe wird sie Gunnar nicht verlassen. Noch ein Aufbruch in eine weitere Fremde liegt nicht in Irenes Vorstellungswelt. Ihre Brüder können nicht verstehen, daß sie nicht nach Stockholm ziehen will und das Provinzleben vorzieht. Die schwedische Natur mit ihren Wäldern und Seen mag sie nicht missen. Und – Irene ist fluchtgeschädigt. Sie hat genug von den Abschieden und Trennungen in ihrer Jugend. Sie beneidet Gunnar um seine Verwurzelung in Alingsås.

Erst als er in einer Krise der Textilwirtschaft arbeitslos wird, macht Irene eigene Schritte in die Unabhängigkeit. „Das einzige, was ich will und kann, ist tanzen“, teilt sie der überraschten Familie mit. In Berlin hatte sie als Kind fünf Jahre Ballettunterricht an der Oper. Nun leiht sie sich Geld, um eine Ausbildung an der Göteborger Akademie für Tanz zu beginnen. Die anstrengendsten Jahre ihres Lebens beginnen. Aber sie ist endlich „nicht mehr nur ein Möbelstück“. Soviel zur unterdrückten Wut der scheinbar Sanftmütigen. Am 1. Januar 1957 eröffnet sie ihre eigene Tanzschule in Alingsås, hat bald dreihundert Schülerinnen und Schüler. Nach einer Abschlußfeier vertraut ihr eine Frau an, daß sie durch den Tanzunterricht bei Irene ihre nervösen Beschwerden verloren hätte. Der Tanz hatte sie gesund gemacht. Von da an, erzählt die heute Achtundsiebzigjährige, habe sie an nichts anderes mehr denken können, als ihre Kenntnisse für seelisch Kranke zu nutzen.

Zu einer Zeit, in der Psychiatriepatienten mit Tabletten und Elektroschocks behandelt werden und psychiatrische Krankenhäuser mit Stacheldraht umgeben sind, ist das ein revolutionärer Gedanke. Irene Weiss-Eklund, die sich von der Mutter so oft einschüchtern ließ, überzeugt die Psychiater der Göteborger Psychiatrie Lillhagen, eine der größten Kliniken im Land, etwas Neues zu probieren. Ausgestattet mit nichts als ihrer Erfahrung, daß Musik und Bewegung eine Möglichkeit sind, um Ungesagtes auszudrücken. Mit ihren Schallplatten und einem Grammophon unter dem Arm wandert sie auf das Anstaltsgelände. Zunächst betreut sie eine Gruppe schizophrener Frauen, die zehn, zwanzig Jahre in der Anstalt auf dem Buckel haben. Nach einigen Wochen wird sie von den Patientinnen fröhlich gegrüßt: „Hej, Gymnastik-Syster!“ – Hallo, Gymnastik-Schwester.

Die Stunden der Tanzlehrerin stellen die Glaubenssätze der zeitgenössischen Psychiatrie auf den Kopf. Menschen, die jahre-, manchmal jahrzehntelang verstummt waren, erwachen in Irenes Stunden zu neuem Leben. Durch Rhythmus, Bewegung und Musik setzt sie in den Kranken erstaunliche Kräfte frei. Jenseits der Sprache finden sie eine Möglichkeit, sich über Körper und Gefühl zu äußern. Ein Mann, der in allen Klinikjahren kein einziges Wort über die Lippen gebracht hat, singt eines Tages bei Irene ein Lied. Ein spektakuläres Erwachen, das den Anwesenden die Tränen in die Augen treibt.Die Tanzlehrerin hat so viel Erfolg, daß man ihr, der Amateurin, die schwierigsten Patienten anvertraut. Oft geht sie tagelang mit Patienten spazieren, bevor sie die eigentliche Therapie beginnt. „Ganzheitlich“ würde man heute zu diesem Ansatz sagen.

In Doktor Georg Punell, bis 1986 Leiter der Reha-Abteilung in Lillhagen, hat sie einen wichtigen Bundesgenossen. Nach und nach wird ihre Arbeit zu einem Teil der offiziellen Ausbildung in Lillhagen. Punell stellt die „bahnbrechende“ Arbeit seiner Kollegin in eine Reihe mit den Forschungen einer Marguerite Sechehaye und eines John Rosen. Irene Weiss-Eklund betreut 1.300 Patienten. Während der Woche lebt sie in Göteborg, von Freitag bis Montag ist sie in Alingsås. Gunnar Eklund unterstützt die Aktivität seiner Frau. Die gemeinsamen Wochenenden werden die glücklichsten Zeiten ihrer Ehe.

Völlig unangekränkelte Zeitgenossen wirken eher ein bißchen langweilig auf sie, gesteht sie und kichert. In dem, was die psychisch Kranken ausleben, fand die deutsche Emigrantin einen Spiegel für das Ungesagte, das sie in sich vergraben hatte. „Irene, ich habe mich gesund getanzt.“ Dieser Dank einer ehemaligen Patientin hängt als Motto über ihrem Schreibtisch.

Anders als ihr jüngerer Bruder Alexander, der als Schriftsteller an dem immer machtvolleren Peter Weiss in späteren Jahren verzweifelte, entging sie dem Elend des Vergleichs. Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten gab ihr Kraft, an den Schicksalsschlägen der vergangenen Jahre nicht zu zerbrechen: Ihr tablettenabhängiger Sohn Jan beging 1973 Selbstmord. Stig, den Erstgeborenen, verliert sie durch einen Herzinfarkt. Vor zwei Jahren ist Gunnar gestorben. Sie selbst kämpft gegen die Leukämie im Körper. Geblieben ist ihr Tochter Karin und die Enkel.

Besuche in dem gelben Holzhaus, das seit drei Generationen im Besitz der Familie Eklund ist, kann sie nur selten empfangen. Aber sie bewegt sich mit einer Schwerelosigkeit, die das Ergebnis jahrzehntelanger Bewegung ist. Vor ein paar Jahren, als sie sich eine Parabolantenne anschaffte, hat sie nach Jahrzehnten wieder Deutsch im Fernsehen gehört. Jetzt guckt sie jeden Nachmittag N3. „So habe ich die deutsche Sprache zurückbekommen.“

Margits Tod ist unvergessen. Erst sehr spät hat Irene bei einem Waldspaziergang Karin erzählt, welche Wunden dieser Schock in ihr hinterließ. Da nahm die Tochter die Mutter in den Arm, als wäre sie ein Kind, und sagte: „Mama, es war aber beschlossen, daß du leben sollst.“

Jutta Rosbach, 44, lebt in Hamburg. Sie arbeitet vor allem für Hörfunk und Fernsehen.

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