Berlin-Buch-Boom: Gestank, Sex und andere Torturen
■ Herrlich prall: Ein stadtführender Roman durchs barocke Berlin des ersten Preußenkönigs
Unterm ersten Preußenkönig, Friedrich I., stank Berlin/Cölln wie die Hölle, und der Sensenmann hatte unfaßbar viel Arbeit. Die ihm allerdings nicht nur durch Krankheiten und Armut entstand, sondern auch durch die große Palette grauenhafter Qualen, von denen sich die barocke Rechtsprechung Wahrheitsfindung erhoffte.
Nun begab es sich aber zu Berlin, daß Roland Adloff just darüber den Roman „Der Advocatus“ geschrieben hat. Und siehe, der Eichborn Verlag sah sich bemüßigt, den Autor am vergangenen Samstag durch die Stadt zu schicken, um einem kleinen, knapp 20 Köpfe zählenden Publikum in der heutigen Stadt die Stadt zu zeigen, wie man sie seinerzeit vorgefunden hätte. Eine Führung, die allem gräßlichen Wetter zum Trotz sehr unterhaltend ausfiel. Denn der Rechtshistoriker Adloff erwies sich als charmanter Erzähler, der mit souveränem Lächeln und zurückhaltenden, aber dennoch deutlichen Gesten über die Struktur der Residenzstadt Auskunft gab. Die Führung ging vom S-Bahnhof Hackescher Markt, der sich ungefähr an der Stelle der damaligen Stadtmauer befindet, durch Rosenstraße (früher auch „Hurengasse“) an Marienkirche und Rathaus vorbei zu der – im Nikolaiviertel nachgebauten, einst direkt in die Spandauer Straße ragenden – Gerichtslaube, die der Hauptschauplatz des Romans ist. Dabei bewies Adloff Sachkenntnis und beschrieb bei jeder sich bietenden Gelegenheit die mannigfaltigen Arten der Folter und Schandstrafen, durch die die Richter Gottes Willen zu vollstrecken gedachten. Von einer Berliner Spezialtortur, den Schwitzkästen, erzählte er, in die die Delinquenten gesteckt wurden, nachdem man ihnen am Vortag salzige Speisen serviert hatte – der unmenschliche Durst sollte sie geständig machen. Von der Schwertstrafe für Christen, wenn sie sich mit Jüdinnen eingelassen hatten – denn das kam der Sodomie gleich. Von in Not geratenen Frauen, die schöpfungslästerlicherweise ihr Neugeborenes getötet oder abgetrieben hatten und zur Strafe sich einen Sack nähen mußten, in den gebunden sie hinterm Schloß bei lebendigem Leibe in die Spree geworfen („gesäckt“) wurden usw. usf. – Was das Zerstören von Leben anging, war man damals außerordentlich erfinderisch.
Der Roman „Der Advocatus“ lebt von diesen Geschichten, „skandalös, sinnlich, lebensprall“ ist seine Atmosphäre laut Verlagswerbung. Wie auf der anschließenden Lesung im Buchladen Kiepert an der Schönhauser Allee zu sehen, kann man mit ausschweifenden Schilderungen von Torturen, Gestank und Sex noch immer große Augen und offene Münder provozieren, während das eigentliche Thema des – im übrigen lesenswerten – Buches weniger Interesse fand, nämlich der Konflikt zwischen barocker, Korruption und Bigotterie begünstigender Gott- und Staatsfürchtigkeit auf der einen und humanistisch-aufklärerischer Idee auf der anderen Seite. Adloff, ein geübter Unterhalter, befriedigte sein Publikum daher auch vor allem mit Schaudergeschichten und Gossip, die illustrativen Anekdoten standen deutlich vor dem geschichtlichen Hintergrund.
Was auch der Hintergrund der Führung nahelegte: Vorm Rathaus heiratete ein Soldat in Uniform, offensichtlich wegen des Soldzuschusses, der Palast, das einzige Gebäude in Mitte, das sich zumindest nominell in demokratischer Tradition befindet, soll dem alten Schloß weichen, die lokale Yellow Press titelte am Sonnabend mit absurden Gefängnisstrafen für verspannte Hundehalter, und in der S-Bahn bestätigten sich zwei in ihrer Forderung nach Todesstrafen für „Kinderschänder“ – so viel hat sich also doch nicht verändert: Die Aufklärung hat sich anscheinend noch nicht durchgesetzt. Jörg Sundermann
Roland Adloff: „Der Advocatus“. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999, 390 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen