piwik no script img

Da staunen selbst verwöhnte Westler

■ Findig: Eine leidenschaftliche Buchhändlerin bringt in Jena die Bücher zu den Lesern

„Ich find' das richtig praktisch.“ So kommentiert die Jenaer Studentin Jaqueline D. (21) begeistert eine Neuerung, mit der sich die Saalestadt wohl demnächst einen Namen machen wird. Angesichts allerlei Reizthemen wie Aufhebung der Buchpreisbindung, Online-Shopping oder Teilwertabschreibung von Buchbeständen, bei denen jeder Buchhändlerkopf (nicht nur in den neuen Bundesländern) zu rauchen beginnt, hat eine findige Jenaer Buchhändlerin die zündende Idee gehabt.

Rosemarie Leibel (39) ist aus Leidenschaft Buchhändlerin. Schon vor der Wende betrieb sie ihren kleinen Laden am Johannisplatz gegenüber vom Rathaus. „Wir bringen die Bücher zu den Lesern, und das fast rund um die Uhr.“ Ein absolutes Novum. In den letzten Monaten war ihr aufgefallen, daß ihre Kundschaft – vorwiegend studentisches Publikum – immer öfter ausblieb. Die neuen Medien verlangen ihren Tribut, zudem gibt es immer mehr Onlinearbeitsplätze im mitteldeutschen Silicon Valley an der Saale. Vom vertraulich-vertrauten Stöbern beim Buchhändler kann keine Rede mehr sein.

Rosemarie Leibel reagierte. Sie richtete eine eigene Homepage ein und bietet seither eine Art VLB (Verzeichnis lieferbarer Bücher) per Internet an. Die Kunden klikken in den virtuellen Warenkorb, und die Belieferung erfolgt prompt innerhalb von 24 Stunden. Das ermöglichen die Barsortimente, die altgedienten Zwischengroßhändler. Ihre Kundendatei wird sorgfältig betreut, und die Internetsurfer werden außerdem mit aktuellen Tips und Rezensionen versorgt. Zusätzlich im Angebot sind Tageszeitungen, Publikums- und Fachzeitschriften – und sogar Snacks. Anlieferungskosten fallen nicht an, ab einer bestimmten Bestellsumme gibt es sogar Rabatt. Die Bezahlung erfolgt sofort in bar oder per Scheck innerhalb vierzehn Tagen. Lohnt sich das überhaupt in einer ostdeutschen Kleinstadt mit 100.000 Einwohnern?

„Und ob“, sagt die freundliche Enddreißigerin. „Innerhalb des Altstadtgebietes liefern wir per Fahrrad, für etwas außerhalb per Pkw. Jena hat gewachsene intellektuelle Strukturen. Denken Sie nur an die Uni und Jenoptik. Vor allem Fachliteratur ist gefragt, viele kleinere Firmen machen von unserem Service Gebrauch.“ Drei Bücherkuriere sind von 11 bis 20 Uhr ständig im Einsatz. Tourenplanung ist das A und O.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten geben sich die Lieferanten optimistisch. In der örtlichen Presse wurde die Neuerung teils kontrovers diskutiert. Viele fürchteten um das Kulturgut Buch, um Arbeitsplätze im Buchhandel. „Alles Unsinn. Das Gegenteil ist richtig“, kontert die flexible Buchhändlerin. „Die neue Zeit mit ihren Herausforderungen verlangt auch nach neuen Lösungsansätzen. Entweder wir gehen zum Kunden, oder wir gehen konkurs. – Na ja, ich geb' zu, das ist jetzt etwas überspitzt.“ Doch der Bringeservice wird von der Bevölkerung angenommen, erstaunlich der hohe Anteil an jungen Lesern.

„Auf die Idee sind wir bei unserem monatlichen Mittelstandsstammtisch mit Lothar Späth gekommen. Gerade wir in den neuen Bundesländern haben gelernt, flexibler zu sein. Viel von den ideologischen Ballasten der Westdeutschen, was Arbeitszeit und Bezahlung angeht, sind für uns Fremdworte. Das ist unser Standortvorteil.“ Und der Erfolg gibt der jungen Unternehmerin recht. Branchenbeobachter vermuten allein im letzten Halbjahr eine Umsatzsteigerung um das Siebenfache. Und es konnten fünf neue Mitarbeiter eingestellt werden. Damit nicht genug. Die findige Buchhändlerin plant bereits eine Expansion. „Heuer, wo Weimar Kulturstadt Europas ist, denken wir eine Ausweitung unseres Bringedienstes in die Nachbarstadt an. Die vielen Ereignisse locken viele Gäste auch aus den alten Bundesländern an, die mehrere Tage bleiben. Für die wollen wir als Testballon eine kleine Filiale in der Klassikerstadt einrichten.“

Über 700.000 lieferbare Titel, dazu eine Ergänzung um englischsprachige Titel, da staunen selbst verwöhnte Westler. Auf der Leipziger Buchmesse wird Rosemarie Leibel (übrigens auch mit eigenem Stand) ihr Erfolgskonzept in diversen Workshops vorstellen und sich auf einer öffentlichen Podiumsdiskussion in der Alten Börse (Freitag, 20 Uhr) den Fragen der Kollegen, Leser, Autoren und Betriebswirtschaftler stellen.

Der Börsenverein betrachtet die Jenaer Aktivitäten abwartend, jedoch mit gewissem Wohlwollen. Zu einer Stellungnahme für unsere Zeitung war man nicht bereit. Doch soviel scheint sicher: Der Buchhandelsstandort Jena scheint gesichert. Michael Rudolf

Die Idee entstand am Mittelstandsstammtisch. Nun gibt's 700.000 Titel, Tips und sogar Snacks in 24 Stunden frei Haus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen