Tod in Niel

Ausdauer, Geduld und Beharrlichkeit: Im Loblied und im Haß auf die Provinz findet die deutsche Literatur zu sich selbst. Die Debütromane von Christoph Peters und Ralf Bönt zeigen, daß auch westdeutsche Autoren ein vergangenes Land zu rekonstruieren haben  ■ Von Jörg Magenau

Von Michael Rutschky stammt die gern genommene These, die DDR entstehe erst jetzt, nach ihrem realen Untergang. Erschien sie ihren Bewohnern früher häufig als künstliche Zwangsgemeinschaft, bilde sie sich nun, in ihrem Verschwinden, als gemeinsamer kultureller Raum und Verständigungsbasis der Hinterbliebenen heraus. Erst in der Erinnerung sei sie mögliche Heimat: eine „Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft“ in einer fremd gewordenen Gesellschaft. „In diesem Sinne als Kultur“, so Rutschky, „hat die DDR zuvor nie existieren können.“

Weniger beachtet als die postume Geburt der DDR ist die Tatsache, daß auch die alte BRD merkwürdige Wiederauferstehung feiert. Auch sie ging 1989 unter – allerdings wurde das nur von den wenigsten bemerkt. Zumindest verlor sie mit der DDR ihr provinzielles Spiegelbild, in dem sich die eigene Weltläufigkeit mit minimalem Aufwand hatte konstruieren lassen.

Nach 1990 entlastete kein eingemauerter Staat mehr vor der Erkenntnis: Die Provinz, das sind wir. Entsprechend inflatorisch war von Aufbruch und von Berlin die Rede. Die provinzielle Bundesrepublik mit ihren provinziellen Landeshauptstädten und ihrem provisorischen Regierungssitz hatte sich immer vergeblich nach einer richtigen Hauptstadt und einer international konkurrenzfähigen Metropole gesehnt – jetzt wurde sie mit dem der Provinz eigenen Machbarkeitswahn in die Tat umgesetzt. „Das Elend der Provinz“, schrieb Karl Heinz Bohrer Anfang der 90er Jahre im Merkur, „ist, daß sie nicht Provinz sein will.“ Deshalb versuche sie sich aufzublähen und Metropole zu spielen, die Innenstädte gnadenlos aufzuhübschen und die Bahnhöfe so lange in multifunktionale Schlaraffenländer umzufunktionieren, bis den Provinzbewohnern alles Fernweh ausgetrieben ist und sie ihre aufgeblähte Provinz für urban halten.

Eine Metropole in der Pubertätsphase

So war es in westdeutschen Städten mit ihren austauschbaren Fußgängerzonen, und so geschah es in der sogenannten Berliner Republik im großen Maßstab: Das weltstädtische Berlin, das die Provinz von sich selbst erlösen sollte, wurde am Reißbrett entworfen und auch gleich mit der „größten Baustelle Europas“ ausgestattet. Jede neue Baugrube in dieser aus zwei provinziellen Hälften zusammengezählten Großstadt wurde als weiterer Schritt zur Metropolentauglichkeit gefeiert, bis dann am Potsdamer Platz die ernüchternde Erkenntnis wuchs: Auch hier sieht es nun so aus wie in Braunschweig, Wanne-Eickel oder Düsseldorf. Die neue Republik ist eine mit gewaltigem Aufwand betriebene Rekonstruktion der alten.

Es war und ist ein eher lächerliches Schauspiel, das vielleicht weniger wirkungsvoll gewesen wäre ohne die begleitenden kulturellen Überbauarbeiten. Vor allem die Literaten zogen, von A wie Arjouni bis Z wie Zschokke, in Scharen nach Berlin, um den geforderten Hauptstadtroman zu Papier zu bringen. Autoren, die sich nicht dem „Chaos der Stadt“ aussetzten und metropolitan unspießige Lebensart demonstrierten, brauchten auf dem Buchmarkt gar nicht erst anzutreten.

Mittlerweile scheint sich jedoch eine gewisse Überdrüssigkeit am schrillen Szeneroman einzustellen, dessen Personal – wie etwa in Elke Naters „Königinnen“ (1998) – nur noch gelangweilt in Kaffeehäusern sitzt und Pillen einwirft. Die Sache mit der Metropole blieb – von Thomas Hettches „Nox“ (1995) bis zu Tim Staffels „Terrordrom“ (1998) – irgendwie in der Pubertätsphase stecken und wirkte immer ein bißchen verkrampft und überkandidelt. Erst Judith Hermann fand mit ihren bereits über Berlin hinausweisenden Erzählungen „Sommerhaus, später“ einen ruhigeren, melancholischen Tonfall: Als gelte es, von Berlin leise Abschied zu nehmen.

Zwei literarische Debüts des Frühjahrs lassen nun hoffen, daß das Mißverständnis, eine Metropole herbeischreiben zu können, überwunden werden könnte. Christoph Peters vielgelobter Roman „Stadt Land Fluß“ begibt sich angstlos in die Niederungen niederrheinischer Provinz und widerlegt die gängige These, die interessantere Literatur (Brussig, Schulze etc.) entstehe in den östlichen Bundesländern, die dem Westen die Erfahrung des Systemwechsels und der „Biographie mit Bruch“ voraushaben. Peters' Bekenntnis zur Provinz ist zugleich eine Besinnung auf die Stärken der deutschen Literatur, die – ob Ost oder West – immer dann überzeugt, wenn sie ihre regionale Herkunft nicht verleugnet.

Ein auf Normalität gestimmtes Dasein

„Stadt Land Fluß“ führt zurück in die alte Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre und ist über weite Teile ein Requiem auf einen bäuerlichen, dörflichen Kosmos, der im Stadium seines Untergangs beschrieben wird. Auch die Westler, das zeigt sich in dieser Enzyklopädie der Vernichtung, haben eine verlorene Welt erzählerisch wiederaufleben zu lassen. Da verwundert es allerdings, daß in diesem in Kalkar angesiedelten Erinnerungs- und Heimatbuch mit keinem Wort der „schnelle Brüter“ erwähnt wird, der doch das Symbol einer gigantomanen Modernisierung ist: Überbleibsel eines in Beton gegossenen, sehr provinziellen Technologiewahns.

Der Tod ist allgegenwärtig im Dorf Niel, an das sich der 33jährige Erzähler Thomas Walkenbach erinnert. Er ist – wie der Autor selbst, der auch aus Kalkar stammt – erfolgloser Kunsthistoriker. Seit Jahren beschäftigt er sich mit Problemen der Zentralperspektive und werkelt unverdrossen an einer Arbeit über den niederrheinischen Kunstschnitzer Henrick Douwerman. „Natürlich ist es nicht leicht, jahraus, jahrein eine Forschung voranzutreiben, an der niemand Interesse hat“, klagt Walkenbach durchaus generationstypisch und kultiviert das beschauliche Leben. Eine seiner Maximen lautet: „Die Erwartung des Glücks ist größer als das Glück.“ Also bleibt er am liebsten, wo er ist, denn „entweder ist man in der Heimat oder fremd. So einfach ist das.“

Ein bißchen peinlich ist es ihm allerdings, wenn Freunde nach Monaten wieder einmal anrufen und er ihnen nichts zu erzählen hat. Es ist ein Leben mit viel Zeit und wenig Bewegung, das seinen Sinn weniger in der Arbeit oder in der Gesellschaft sucht als in der Liebe. Die Liebe zur Zahnärztin Hanna, die sich anbahnt, während ihm der Speichelsauger im Mund steckt und Hanna Gummihandschuhe trägt, ist das einzig Außergewöhnliche in seinem auf Normalität gestimmten Dasein. Das folgende pragmatisch organisierte Miteinander ist jedoch von Walkenbachs nüchterner Erkenntnis getragen, im Prinzip mit ziemlich vielen Frauen leben zu können, nur eben dann nicht, wenn man diese Möglichkeit voraussetzt. Und so vermerkt er abends, vor dem Einschalten des Fernsehers: „Ausdauer und Geduld und Beharrlichkeit. Morgen wieder.“ In der Provinz ist das Leben vor allem ein Kampf mit sich selbst.

Ein ganz anderer Charakter ist Icks, der monomanische Erzähler in Ralf Bönts gleichlautendem Debütroman. Seine Annäherung an die Provinz ist als Abstoßbewegung getarnt. Icks – ein Name wie ein Ego mit Schluckauf – sitzt im Flugzeug nach New York, trinkt viel Whisky und erzählt seinem zufälligen Sitznachbarn in einem sturzbachartigen Monolog von Frau und Kind zu Hause in Berlin. Vor allem aber berichtet er von einem Besuch bei den Eltern im heimatlichen Bielefeld – übrigens auch der Geburtsort von Ralf Bönt – und vom Elend, in dieser „Verlogenheit“ groß zu werden. Schon der „albern pittoreske“ Bahnhofsvorplatz, der einmal „Platz des Widerstands“ hieß und der jetzt frisch kopfsteingepflastert ist mit alten Steinen aus dem Osten, ist ein nieselregenüberzogenes Monument provinziellen Stumpfsinns. Daß es sich um Bielefeld handelt, hält Icks für „komplett unwichtig“. Sein Leben wäre auch in jeder anderen Stadt nicht anders verlaufen. Das ganze Land erscheint ihm als „Spielzeugland für große Kinder“. Westdeutschland: „eine ewige, angebliche Unbedarftheit“.

Icks' Haß auf alles Provinzielle ist kraftvoll und doch signifikant für den Provinzler. Indem er glaubt, selbst ganz anders zu sein als all die Spießer nebenan, reproduziert er die provinzielle Engstirnigkeit und Arroganz auf scheinbar höherem Niveau. Am Ende – und das macht die dramatische Bewegung des Textes aus – merkt er jedoch selbst, daß er, promovierter arbeitsloser Physiker und dilettierender Theaterregisseur, nicht so anders ist als die verachteten Eltern in ihrer Glasbausteinvorgartenidylle. „Tatsächlich, ich war bloß auf dem Weg, die ganze Zeit über – 33 Jahre – genauso zu werden wie sie.“

Die Unmöglichkeit, erwachsen zu werden

Insofern sind sich Christoph Peters' Walkenbach und Ralf Bönts Icks eben doch ähnlicher, als es zunächst scheint. Beide sind 33 und mit irgendwelchen überflüssigen Karrieren beschäftigt: Es besteht kein gesellschaftlicher Bedarf an ihnen – und umgekehrt kümmern sie sich um gesellschaftliche Belange kaum. Es ist ein Generationenschicksal, das in diesen beiden Figuren kenntlich wird: die Überproduktion von nutzlosem Wissen, massenhafte Akademikerarbeitslosigkeit, die verbissen-trotzig mit dem Festhalten an nutzlosen Projekten und der ersatzweisen Betätigung im Raum der Kunst und mit Flucht ins Private beantwortet wird. Kein Wunder, daß Walkenbach den abgeklärten Beobachter mimt und Icks das Leben für Spielerei hält und am eigenen Erwachsenenstatus zweifelt. Wann ist der Mann ein Mann? Die Generation der Überflüssigen kann nicht erwachsen werden.

Für Walkenbach steht die Beziehung zu Hanna im Zentrum seines Lebens. Ihr Verschwinden ist der Ausgangspunkt seines Erzählens, einer Erinnerungsarbeit, die die ganze Biographie im Fokus des Zusammenlebens bündelt. Es geht ihm, so sagt er einmal, um die „Mechanik des Erinnerns“, und überhaupt scheint er in vielen Dingen eher Ingenieur als Kunsthistoriker zu sein. Auch in der Liebe ist er auf der Suche nach einer Zentralperspektive, von der aus er das Geschehene verstehen könnte. So entsteht eine Anatomie der Liebe, die Empfindungen sachlich als komplexe chemische Reaktionen zu deuten versucht. Man kann „Stadt Land Fluß“ auch schlicht als modernen Liebesroman lesen, der den Gefühlspegel beharrlich zu objektivieren versucht.

Hanna bleibt bis zum Schluß verschwunden. Gewiß ist nur, daß sie an Brustkrebs erkrankte. Vielleicht hat sie sich in eine Klinik begeben. Vielleicht ist sie längst tot, und Walkenbach will das nicht wahrhaben. Vielleicht hat er sie sogar umgebracht, um seine Liebe zu retten, und all sein Erinnern wäre dann nichts anderes als eine gigantische Verdrängungsleistung. Der Roman läßt alle Möglichkeiten offen. Auch er bietet keine Zentralperspektive. Walkenbach findet immerhin zu einer Begründung für die Vergeblichkeit seines Tuns und zu der Vermutung, die Zentralperspektive sei wohl „ein urbanes Phänomen“. Der Provinzroman handelt demnach notgedrungen vom Scheitern.

Icks sieht es ähnlich. Er spricht leitmotivisch vom „leeren Dickicht“, das sein Leben ist, und sieht sich an den eigenen jugendlichen Erwartungen gescheitert. Denn in der Jugend, solange man die Zukunft noch vor sich hat, ist es leicht, ein Held zu sein. Dabei wollte er eigentlich bloß eine Arbeit, „die das Leben nicht immer schon von vornherein verachtet“. Ist das denn schon zuviel verlangt? Am Schluß, kurz vor der Landung in New York, hängt er betrunken in den Gurten: Die Suada war noch keine Befreiung. Die Provinz ist nicht so einfach abzuschütteln.

Christoph Peters: „Stadt Land Fluß“. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999, 278 Seiten, 38 DM

Ralf Bönt: „Icks“. Roman. Piper Verlag, München 1999, 170 Seiten, 29,80 DM