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„Der Westen gibt wieder nur eine halbherzige Antwort“

■ Der Pariser Philosophieprofessor Muhamedin Kullashi über Nato-Angriffe, Auswirkungen auf den Balkan und Perspektiven für Kosovo

Muhamedin Kullashi ist seit 1992 Professor für Philosophie an der Universität Paris VIII. Bis dahin unterrichtete er 17 Jahre lang an der philosophischen Fakultät der Universität von Priština. Sein letztes Buch mit dem Titel „Humanismus und Haß“, das er in Frankreich veröffentlichte, behandelt die Ursachen für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und den Konflikt im Kosovo.

taz: Seit den Angriffen der Nato auf Jugoslawien hat Milošević die Repression gegenüber den Albanern im Kosovo und die Politik der „ethnischen Säuberungen“ noch verschärft. War diese Entwicklung vorhersehbar?

Muhamedin Kullashi: Zweifeln konnte man allenfalls an dem Grad, nicht aber an der Sache selbst. Die Ausgrenzung bestimmter Volksgruppen und die Politik „ethnischer Säuberungen“ gehören zu den Grundlagen des Systems Milošević. Man kann das im Kosovo seit zehn Jahren verfolgen. Der Westen hat das zu spät erkannt. Der Vertrag von Rambouillet hätte eine politische Lösung des Konflikts möglich und „ethnische Säuberungen“ unmöglich gemacht. Deshalb konnte Milošević auch nicht unterschreiben.

So wie es aussieht, wird die Strategie der Nato, die bis jetzt ausschließlich auf Luftangriffe setzt, nicht aufgehen?

Jetzt zeigt sich drastisch, daß die westlichen Länder der Politik von Milošević immer hinterherhinken. Vor einem Jahr begannen die brutalen Militäraktionen gegen die Zivilbevölkerung im Kosovo. Der Westen versäumte es zu lange, entschlossen zu reagieren und auf dieses Regime adäquat zu antworten. Jetzt profitiert es noch von den Luftangriffen, wobei das keine Kritik an diesen Angriffen sein soll. Klar ist: Ohne Bodentruppen wird man die „ethnischen Säuberungen“ nicht stoppen können.

Das schließt die Nato bisher aus.

Wieder dieser mangelnde Wille. Man wird wieder lange debattieren, dabei ist das Problem bereits richtig erkannt: Barbarei und „ethnische Säuberungen“. Doch der Westen gibt wieder nur eine halbe Antwort.

Welche Auswirkungen hat die Krise im Kosovo auf den Balkan insgesamt?

Die ganze Region wird destabilisiert, besonders Montenegro. Die montenegrinische Regierung nimmt eine kritische Haltung gegenüber Belgrad ein. Schon vor einem Jahr hat der Präsident Milo Djukanović die Politik von Milošević als selbstmörderisch und zerstörerisch bezeichnet. Die Halbherzigkeit, die der Westen [mit der Beschränkung auf Luftangriffe, d. Red.] jetzt zeigt, schwächt die Position von Djukanović enorm. Die Folge davon könnte sogar ein Sturz der montenegrinischen Regierung sein. Meldungen in dieser Richtung kursieren bereits. Ob das nun zutrifft oder nicht: Milošević kann von dieser Situation profitieren und versuchen, in Montenegro einen Staatsstreich zu provozieren.

Die Nachbarstaaten des Kosovo sind mit immer mehr Flüchtlingen konfrontiert. Wie sollte sich der Westen angesichts dieser Situation verhalten?

Die Staaten müssen eine Antwort auf das finden, was Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac als organisierte Barbarei bezeichnet hat. Sie dürfen die Flucht der Menschen aus dem Kosovo in die umliegenden Staaten nicht als dauerhafte Lösung akzeptieren. Denn das hieße, die Ergebnisse dieser Barbarei akzeptieren. Humanitäre Hilfe ist notwendig, wichtiger aber ist, alles zu unternehmen, daß die Flüchtlinge wieder zurückkehren können.

Jetzt wird wieder mehr über die Option einer Teilung des Kosovo diskutiert. Welche Perspektiven sehen Sie?

Eine Teilung des Kosovo wäre eine der schlechtesten Lösungen. Auch das wäre eine Anerkennung der Politik der „ethnischen Säuberung“. Überdies würde eine Teilung des Kosovo mit seiner Fläche von nur 10.000 Quadratkilometern absurd und würde nur zu neuen Spannungen führen. Denn auf dem abgetrennten Territorium würde ein Ghetto entstehen. Außerdem: Wohin ginge die andere Hälfte der Albaner? Nach Albanien, das ohnehin schon große Probleme hat? Nach Makedonien, wo sie niemand haben will?

Könnte die Option einer Unabhängigkeit auf die Tagesordnung kommen? Vor wenigen Tagen hat US-Präsident Bill Clinton so etwas vage angedeutet.

Die Option der Unabhängigkeit kategorisch auszuschließen, war auch ein Fehler des Westens. Das mußte Milošević stärken und gab ihm die Möglichkeit, fremde Truppen auf souveränem Staatsgebiet abzulehnen. Jetzt, angesichts der sich verschärfenden Situation könnte diese Forderung wieder lauter werden. Das ist verständlich. Denn die stärkste Motivation für die Albaner, die Unabhängigkeit zu fordern, liefert die Belgrader Politik. Und wie kann man nach den Ereignissen der letzten Tage von den Albanern noch verlangen, unter Belgrader Herrschaft zu leben? Doch die Unabhängigkeit ist keine Frage von morgen oder übermorgen. Zuerst müssen in einer Übergangsphase unter internationalem Schutz Institutionen aufgebaut und Wahlen organisiert werden. Interview: Barbara Oertel

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