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Jonglieren mit der Zahl der Opfer

Über die Opfer der Nato-Angriffe in Serbien erfährt man kaum etwas. Dafür kursieren Gerüchte, sogar über Absprachen zwischen Nato und jugoslawischem Generalstab  ■ Aus Wien Ivan Ivanji

Russische Medien berichteten, seit Beginn der zwölftägigen Luftangriffe der Nato auf Jugoslawien seien über 1.000 Zivilisten getötet worden. Quellen wurden nicht angegeben. In Jugoslawien werden solche Zahlen nicht bestätigt. Obwohl die regimenahen Medien die Attacken als terroristisch bezeichnen und mit der Bombardierung Belgrads durch Hitlers Luftwaffe am 6.April 1941 vergleichen, die an einem Tag über 15.000 Menschen das Leben gekostet hat, sind offizielle Nachrichten über tote Zivilisten spärlich. Man hätte eher Übertreibungen erwartet.

In Belgrad verbrannte der Nachtwächter Slobodan Tešić, als nach einem Treffer das Heizwerk der Vorstadt Novi Beograd explodierte. Bei einem Angriff auf die Erdölraffinerie in Pančevo starben zwei Arbeiter. Aus der Stadt Kuršumlija im Süden Serbiens wurden dreizehn, aus Aleksinac fünf bis sieben Tote und Dutzende verletzte Zivilisten gemeldet. Ist es möglich, daß nach so vielen Angriffen mit den fürchterlichsten Waffen der Welt nicht mehr Tote zu beklagen sind?

Viele Meldungen der Nato, daß Kasernen der jugoslawischen Armee voll getroffen worden sein sollen, wurden in Jugoslawien bestätigt, aber kein einziger Soldat soll dabei verletzt, geschweige denn getötet worden sein. Zwar wird behauptet, die Einheiten seien längst disloziert worden, aber es klingt sonderbar, daß nicht einmal Feuerwachen zurückgelassen wurden. Im Zentrum Belgrads wurden in derselben Nacht die Innenministerien Serbiens und Jugoslawiens getroffen und brannten aus. Niemand soll in diesen Häusern gewesen sein. Ist es vorstellbar, daß in solchen Zeiten dort niemand Nachtdienst hatte?

Interessant ist die Meldung über der Angriff auf das Oberkommando der Luftwaffe in der Vorstadt Zemun, wieder ohne daß Verletzte oder Tote zu beklagen wären. Jeder Belgrader weiß, daß seit 1968 in diesem Gebäude ein Offizierskasino ist. Im dazugehörenden Restaurant wurden oft Hochzeitsfeiern normaler Bürger veranstaltet. Die Kommandozentrale befindet sich in einem unterirdischen Unterstand, der sogar gegen Atomwaffen sicher wäre. Ist es möglich, daß Nato und CIA das nicht gewußt haben sollen?

Als die Sowjetunion mit ihren Verbündeten die Tschechoslowakei gemaßregelt hatte, befürchtete Tito, Jugoslawien stehe Ähnliches bevor. Vorbereitungen für einen Krieg gegen eine übermächtige Großmacht begannen. So wurden Magazine, Waffendepots und Kommandozentralen in unzugänglichen Tunneln in Bergen oder sonst unterirdisch angelegt. Der Krieg in Bosnien konnte so lange ohne nennenswerten Nachschub geführt werden, weil alle – Serben, Muslime und Kroaten – Zugang zu solchen geheimen Ansiedlungen und Waffen-, Ausrüstungs- und Treibstofflagern hatten. Wahrscheinlich verläßt sich auch heute die jugoslawische Führung auf solche Einrichtungen.

Seltsame Gerüchte gibt es in Belgrad. Und wenn sie lange genug kursieren, werden sie zum Politikum. So heißt es, das Nato-Kommando in Mons warne den jugoslawischen Generalstab, wo man zuschlagen werde. Begründet wird das damit, daß General Clark jugoslawische Generäle vor Beginn der Angriffe eingeladen hatte, seinen Stab zu besuchen, um die Serben aufzuklären, was ihnen bevorstehe, wenn sich Milošević dem Westen nicht beugt.

Möglich ist auch, daß Todesnachrichten verzögert werden, um keine Panik bei der Bevölkerung aufkommen zu lassen. Von eigenen Toten wird sowenig wie möglich berichtet. Dafür meldete die Nachrichtenagentur Tanjug unter Berufung auf die griechische Zeitung Atinaiki, in Thessaloniki seien Dutzende von toten Nato-Soldaten, gefallen in Jugoslawien bei Rettungsaktionen für abgeschossene Piloten, in Zinksärgen ins dortige Militärkrankenhaus eingeliefert worden. Einen Tag später dementierte man in Athen diese Falschmeldung, aber die Jugoslawen hörten das nicht und freuten sich weiter. Auch so wird Krieg geführt: mit Desinformationen, Lügen und dem Verschweigen von Tatsachen.

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