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„Neben einer Leiche im Autobus“

■ Rios Einwohner präsentieren sich auf der Expo als Experten für Armut und Gewalt

Berlin (taz) – „Putzfrauen und Wäscherinnen gehören ins Parlament“, forderte Benedita da Silva, als sie 1986 in den brasilianischen Kongreß einzog. Die Abgeordnete der brasilianischen Arbeiterpartei PT aus Rio war die erste schwarze Frau, die den Sprung vom Elendsviertel ins vollklimatisierte Volksvertreterhaus in der Hauptstadt Brasilia schaffte.

Mittlerweile haben dort benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Hausangestellte, Landlose, Gummizapfer und Indianer einen Platz. „Bené“, wie die 57jährige PT-Politikerin am Zuckerhut genannt wird, ist zur stellvertretenden Gouverneurin des Bundesstaates Rio de Janeiro aufgestiegen.

Seit dem Ende der Militärdiktatur (1964 bis 1985) ist die brasilianische Gesellschaft wesentlich demokratischer geworden. Brasiliens jetziger Präsident, Fernando Henrique Cardoso, trifft sich regelmäßig zum Meinungsaustausch mit dem Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsverbandes des Landes. Mehr Demokratie und Mitbestimmung haben allerdings nicht zu einer gerechteren Einkommensverteilung und zur Überwindung der brasilianischen Klassengesellschaft geführt. Was sich geändert hat, ist der Umgang mit Armut und Gewalt. Die Regierung läßt die Elendsviertel nicht mehr abreißen, sondern geht auf die Sanierungsvorschläge der Bewohner ein.

Immerhin wohnen rund ein Drittel der sechs Millionen Einwohner der Stadt in den berüchtigten Armenvierteln, wo Drogenhändler im Labyrinth der engen Gassen ihre Geschäfte abwickeln. 105 Favelas werden zur Zeit mit Straßen, Müllabfuhr, Kanalisation, Strom, Kindergärten, Schulen und Sportzentren versorgt. Im nächsten Jahr wird das Projekt „Favela – Bairro“ (Elendsviertel – Stadtviertel) sogar auf der Expo 2000 in Hannover ausgestellt.

Die bedrohliche Glasscherbe auf der Pulsader bei leichtsinnigen Autofahrern mit offener Fensterscheibe, die Fahrt neben einer Leiche im Bus, der Banküberfall und die Pistole im Nacken gehören an der Copacabana zu den alltäglichen Erfahrungen. In Rio, wo Hochhausbewohner von ihrem Wohnzimmerfenster aus auf das Meer der Holzbaracken blicken können, das sich über den Hügeln hinter ihrem Haus erstreckt, existieren ungeschriebene, aber feste Regeln für die Koexistenz. Dazu gehört zum Beispiel die Fähigkeit, sich in Sekundenschnelle auf den Boden zu schmeißen, um bei Schußgefechten zwischen Drogengangs nicht von Irrläufern getroffen zu werden oder die Schweigepflicht gegenüber der Polizei.

Die hohen, mit Glassplittern gespickten Mauern, das Heer privater Sicherheitskräfte, Autos mit Klimaanlage und Kampfhunde sind eine Antwort auf die grassierende Gewalt. Das Projekt „Favela – Bairro“ und die „soziale Besetzung“ der Elendsviertel sind andere. Astrid Prange

Die Autorin war Brasilien-Korrespondentin der taz von 1990 bis 1996

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