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Abschied von der Zukunft

Politischer Beharrungsstolz und trotzige Verzweiflung: Volker Braun wird 60 und legt einen neuen Gedichtband vor. In „Tumulus“ untersucht er den Untergang einer Epoche vom Grabhügel aus und spricht ohne Scham über den Kapitalismus  ■ Von Michael Braun

Der Chronist der sozialistischen Hoffnungen hat Abschied genommen, Abschied von dem Lebensprojekt, dem er sein literarisches Werk gewidmet hat, Abschied auch von der Zukunft. Seitdem ihm die politische Utopie, sein Traum von „Volkseigentum plus Demokratie“, entrissen wurde, entfaltet Volker Braun das Pathos der Niederlage. Dreißig Jahre lang, von der frühen Erzählung „Der Schlamm“ (1959) bis zum „Bodenlosen Satz“ (1988), bestand seine literarische Arbeit im poetischen Insistieren auf Zukunft, im trotzigen Beharren auf einem besseren Sozialismus, der das protosozialistische Larvenstadium des SED-Staates überwinden sollte. Erst nach dem Kollaps des Landes, in das er trotz allem seine Hoffnungen investiert hatte, hat sich sein marxistischer Messianismus in ein katastrophisches Denken verwandelt.

In „Tumulus“, dem neuen Gedichtband mit zwölf intensiven Gedichten, hat sich Volker Braun den römischen Historiker Plinius zum Kronzeugen erwählt, der inmitten einer Naturkatastrophe, einem Vulkanausbruch, ausharrt und den Untergang der Alten Welt beschreibt. Volker Brauns lyrisches Ich registriert im finsteren Blick auf die Gegenwart die „Schlacken einer anderen Katastrophe“. Es ist der finale Triumph des Kapitalismus, der den Ausharrenden in eine aussichtslose Lage bringt.

Das lateinische Wort Tumulus, das dem neuen Band den Titel gibt, meint nicht etwa die lautähnliche Cumuluswolke, sondern einen Totenhügel. Unter diesem Totenhügel hat Volker Braun alle Existenzentwürfe, Visionen und Utopien, die einst Antriebskräfte waren, begraben. Während in seinen älteren Dramentexten und Gedichten Natur und Geschichte stets als formbare Materie beschrieben werden, erfährt das lyrische Subjekt in „Tumulus“ den definitiven Stillstand der Geschichte, das kapitalistische „Posthistoire“, das die Zukunft abgeschafft und alle Daseinsperspektiven verfinstert hat. Was den Schreibprozeß antreibt, ist nicht mehr das „Training des aufrechten Gangs“ – das einem Gedichtband 1970 den Titel gab –, sondern das negative Pathos der Hoffnungslosigkeit, eine düstere Untergangsgewißheit, die sich aller Freiheitsträume entledigt hat. Mitunter scheint es, als habe der Autor dieser düsteren politischen Elegien poetische Nachrufe nicht nur auf eine politische Utopie, sondern auch auf sich selbst verfaßt. „Und lächelte gelassen VOLLER HOFFNUNG / INS FINSTRE, ein Verrückter / Aus der Vorzeit, die die Hoffnung kannte“: So formuliert das Ich des zentralen Gedichtes „Das Nachleben“ sein verzweifeltes politisches Testament – schon zu Lebzeiten widerfährt dem Sprechenden, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, das Verschwinden – er verharrt in stummer Resignation, während man ihm die Totenmaske abnimmt.

Volker Braun ist auch in seinen jüngsten Gedichten der Pathetiker mit hohem Hölderlin-Ton geblieben. Die hier dominierenden Material-Gedichte, die in ihrem Fragmentarismus die Zerrissenheit des Autors widerspiegeln, findet man auch schon im Band „Langsamer knirschender Morgen“ von 1987. Auch in „Tumulus“ arrangiert Braun den Zusammenprall verschiedenster Sprach- und Zeitschichten. Das Material-Gedicht „Strafkolonie“ verschränkt zum Beispiel Motive Kafkas mit den Biographien der tschechoslowakischen Sozialisten Eduard Goldstücker und Alexander Dubcek und Nachrichten über den Modezar Karl Lagerfeld. Gegenüber früheren Büchern hat Volker Braun in „Tumulus“ die Selbstkritik verschärft; geblieben ist seine „Sucht, die härtere Formulierung zu wählen“. Dabei erteilt er sich die poetische Lizenz, „ohne Scham von Kapitalismus zu sprechen“, und scheut dabei auch nicht den Rückgriff auf plakative Metaphern: So finden wir hochtönende Klagen über „den Urschleim der Ausbeutung“ oder „den Nilschlamm der Zivilisation“.

Was diese Gedichte bei aller überhitzten Metaphorik dennoch faszinierend macht, sind gerade ihre dicht gefügten Verzweiflungsbilder, ihr politischer Beharrungsstolz und ihr trotziges Insistieren auf geschichtliche Reflexion. Kein Dichter der Gegenwart setzt sich so intensiv mit den Umwälzungen und Verwerfungen der Zeitgeschichte auseinander wie eben Volker Braun. Aber seit er 1990 das epochale Gedicht „Das Eigentum“ veröffentlicht hat, bezichtigt man ihn immer wieder der reformsozialistischen Verblendung. Weil er sich bis zuletzt den Traum von der „besseren Welt“ nicht abhandeln ließ, waren die professionellen Renegaten sofort mit dem Vorwurf der DDR-Nostalgie zur Stelle. Gewiß: Das Ich des „Eigentum“-Gedichts spricht aus der Perspektive des enttäuschten Liebhabers. Es ist die allegorische Rede davon, daß sich das geliebte Land „wegwirft“, sich dem Westen ausliefert mitsamt seiner „magren Zierde“. Zugleich findet sich in diesem Text eine jener paradoxen Formeln, mit denen Braun programmatisch die Unerfüllbarkeit seiner politischen Utopie benennt: „Was ich nie besaß, werd ich ewig missen.“ In „Tumulus“ wird nun das Absterben all dieser Utopien besichtigt – die geschichtliche Reflexion ist hier in fast jedem Gedicht mit Todesmetaphern eingeschwärzt. „Was war unser Verbrechen?“ heißt es in „Die Bucht der Hingeschiedenen“, um als Antwort einen Abgesang zu präsentieren: „Daß wir die Welt, die hinweggeschwemmt wurde, verändern wollten.“

Wer Volker Brauns Weg vom letzten Aufleuchten politischer Hoffnung bis ins Pathos der Niederlage chronologisch exakt verfolgen will, der sollte zu dem kürzlich erschienenen Suhrkamp-Bändchen mit Essays, Gesprächen und „Äußerungen“ greifen, das Arbeiten aus den Jahren 1989 bis 1998 versammelt. In zwei aufschlußreichen Nachträgen zum legendären Prosatext „Unvollendete Geschichte“ (1975) findet sich hier die bitterste Selbstbezichtigung, die Volker Braun je geschrieben hat. Hier spricht der desillusionierte Skeptiker von seinem politischen Versagen und auch von der „Schuld“, den „unglaubwürdig“ gewordenen Sozialismus wider besseres Wissen verteidigt zu haben. Als Autor sei er als „insgeheim hoffende Person“ ein „erschreckender Fall“. Erst nach dem Untergang der DDR habe er die letzte „mitleidlose“ Erkenntnis vollzogen: „Jetzt trat ich aus der Geschichte, die eine Tatsache war, eine Täuschung, ein Traum, in die absurde Freiheit.“ Als Mitbewohner dieser „absurden Freiheit“ müssen wir den Dichter Volker Braun gegen sich selbst verteidigen. Die Herausforderungen seiner literarischen Arbeit, seiner zeitkritischen Interventionen und auch seiner Utopien wirken fort. Sein Werk bleibt eine „unvollendete Geschichte“.

Volker Braun: „Tumulus“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1999, 50 Seiten, 24 DM Volker Braun: „Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende. Äußerungen“. Edition Suhrkamp, 182 Seiten, 16,80 DM Im Berliner Brecht-Forum findet heute (13 bis 18 Uhr) ein Colloquium zum Werk Volker Brauns statt, um 20 Uhr eine Lesung. Zu Gast u. a. Manfred Jäger, Wolfgang Fritz Haug, Peter Härtling, Kathrin Schmidt

Kein anderer Dichter setzt sich so intensiv mit den Verwerfungen der Geschichte auseinander

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