Soldatenschicksale sind Aktenberge

Der Zweite Weltkrieg war vor 54 Jahren zu Ende – aber noch heute fahnden 530 Angestellte der Nachfolgeorganisation der „Wehrmachtsauskunftsstelle“ nach den Toten des Weltkriegs und informieren ihre Angehörigen  ■   Von Philipp Gessler

Manchmal packt es Jutta Röhr dann doch. „Betroffen ist man“, sagt die Verwaltungsangestellte trocken, manches rühre sie auch nach zehn Jahren Dienst noch: Etwa wenn sie anhand eines Eherings nach bis zu zweijähriger historischer Puzzlearbeit entdeckt, daß der Mann schon nach wenigenTagen an der Front fiel. Dann werden aus den „Vorgängen“, die sie zu bearbeiten hat, plötzlich Schicksale.

Jutta Röhr hat täglichen Umgang mit Toten. Sie begegnet ihren Geschichten bei einem Arbeitgeber, der bundesweit seinesgleichen sucht. Die Berlinerin arbeitet bei der „Deutschen Dienststelle für die Benachteiligung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“, abgekürzt: „WASt“.

So sperrig und rekordverdächtig lang der Name der Behörde am Reinickendorfer Eichborndamm ist, so komplex und superlativbeladen ist die Aufgabe der „Deutschen Dienststelle“: Sie verwaltet und erforscht die Hinterlassenschaft und das Schicksal von Millionen Soldaten aus den Kriegen, die Deutschland seit 1914 geführt hat. Und das in erster Linie mit Hilfe von Akten. Akten über Akten.

Millionen von Karteikarten, Listen und Personalbögen sind auf rund 15.500 Quadratmeter in dem Hunderte Meter langen Backsteingebäude gelagert, passenderweise teilweise in einer ehemaligen Waffen- und Munitionsfabrik, die unter Denkmalschutz steht. Insgesamt 3.600 Tonnen beschriebenen Papiers dienen dazu, auch 54 Jahre nach dem – bis vor kurzem – letzten Krieg der Deutschen Auskunft darüber zu geben, was mit den Soldaten passiert ist, die in ihm kämpften.

Wie hat man sich das vorzustellen? Der amerikanische Regisseur Steven Spielberg hat in seinem Oscar-gekrönten Kriegsfilm „Der Soldat James Ryan“ eindrucksvolle Bilder dafür gefunden: Am Anfang des Films tippen Sekretärinnen einer ähnlichen amerikanischen Behörde die Nachricht vom Tod dreier Brüder einer Familie auf Beileidsschreiben für die Angehörigen. Dies war auch die Aufgabe der Vorläufer-Organisation der „Deutschen Dienststelle“, der im Weltkrieg berühmt-berüchtigten „Wehrmachtsauskunftsstelle“. Von ihr erhielt niemand gerne Post, vielleicht hat gerade deshalb ihr Kürzel „WASt“ überlebt. Sie schickte den Angehörigen gefallener Wehrmachtssoldaten die Nachricht, daß ihr Sohn, Mann, Bruder oder Vater für Führer, Volk und Vaterland gestorben war – und, wenn möglich, die Auskunft, wo er verscharrt wurde.

Das macht die „Deutsche Dienststelle“ noch heute, sie hat die Unterlagen der WASt geerbt. Denn immer noch sind die Schicksale von über einer Million ehemaliger Wehrmachtssoldaten ungeklärt. Noch immer erhalten Angehörige von ihr Nachricht, daß nun die sterblichen Überreste der Gefallenen, etwa in Rußland oder auf den Seelower Höhen vor Berlin, gefunden wurden. Recherchiert wird manchmal in der ganzen Welt. So gab es etwa auch in Neuseeland Kriegsgefangenenlager, wo die Hinterlassenschaften deutscher Soldaten gefunden wurden.

Doch wie den Toten identifizieren, von dem oft nur noch eine Schädeldecke und ein paar Knochen übriggeblieben sind? Der stellvertretende Leiter der WASt, Peter Gerhardt, hält fachmännisch die Erkennnungsmarke eines toten Soldaten ins Licht, ein Stückchen kaum verrottetes Metall mit einer Aufschrift „5879. Gren. Nachr. Ers. Kp.62“. Ausgehend von diesen Metallscheiben, den sogenannten „Hundemarken“, die jeder Soldat um den Hals tragen mußte, kann die WASt mit Hilfe ihrer Akten den Namen und die Herkunft des Toten zu rekonstruieren versuchen. Nur selten konnte die WASt auch nachweisen, daß der Vermißte noch lebte.

Zur Verfügung stehen ihr dazu vor allem jene Jahrzehnte alte Akten, die Gerhardt wie einen Schatz vorführt: 18 Millionen Karteikarten, alphabetisch geordnet, gelagert in Kellern und Dachböden, die groß sind wie Tennisplätze, endlose Reihen von Regalen mit nichts als Daten über Soldaten, die auf deutscher Seite gekämpft haben. Auch die Akten etwa des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff sind hier zu finden, allerdings sicher verwahrt vor allzu neugierigen Blicken: „Prominentenakten sind weggeschlossen“, erklärt Gerhardt betont nüchtern.

Richtig Spaß können in der WASt nur Liebhaber großer Zahlen haben: Unter anderem 100 Millionen namentliche Meldungen in den Erkennungsmarken-Verzeichnissen aus dem Zweiten Weltkrieg, 150 Millionen „personenbezogene Meldungen“ zu den Verlusten der deutschen Truppen, über zwei Millionen Personalakten der deutschen Marine (seit 1871 – manche Listen sind sogar 150 Jahre alt) und noch einmal 15 Millionen Unterlagen über deutsche, österreichische oder verbündete Soldaten in alliierter Kriegsgefangenschaft: Im Zweiten Weltkrieg fielen auf deutscher Seite mehr als vier Millionen Soldaten – der von ihnen entfachte Weltkrieg kostete mehr als 55 Millionen Menschen das Leben.

Doch das Wühlen in dieser traurigen Vergangenheit und der ganze Aufwand werden nicht nur aus historischen Gründen betrieben. Es geht auch um sehr viel Geld. Wer etwa nachweisen will oder muß, daß er im Krieg verwundet wurde und also Anrecht auf eine Kriegsopferversorgung hat, kann sich an die WASt wenden – auch bei Spätfolgen. Deshalb brachte die Wiedervereinigung einen Wust an neuer Arbeit für die Dienststelle: 1991 und 1992 mußte sie 340.000 Anträge bearbeiten.

Dumm nur, wenn sie dabei belegen kann, daß die Nierenschäden, die der Antragsteller auf seinen Dienst im Nordatlantik zurückführt, nicht daher kommen können, da er eigentlich in Generalfeldmarschall Rommels Wüstenarmee kämpfte. Auch so mancher, der sich als Offizier im Weltkrieg ausgegeben hatte, um so eine höhere Rente zu ergattern, konnte so auf den Boden der Realität zurückgestoßen werden. Die WASt hatte Geld gespart. Mitte der 70er, so berichtet Gerhardt mit einigem Stolz, habe man errechnet, daß die Einsparungen durch den Nachweis unberechtigter Forderungen die Kosten für den Betrieb der WASt aufgewogen haben.

Aber immer noch kostet die WASt mit seinen 530 Mitarbeitern den Steuerzahler pro Jahr 45 Millionen Mark. Lohnt sich der Aufwand? Selbst heute noch seien die Angehörigen in der Regel geschockt, aber auch meist dankbar, wenn sie Nachricht erhielten, wo ihr Verwandter bestattet ist, erzählt Gerhardt. Eine Frau habe ihm erst kürzlich einen Brief geschrieben, um sich zu bedanken dafür, daß die WASt die Ruhestätte ihres Sohnes gefunden hat. „Jetzt kann ich in Ruhe sterben“, stand darin. Die außergewöhnlichsten Geschichten aber sind vielleicht die, in denen die WASt den Nachkommen von Freundinnen deutscher Wehrmachtssoldaten in den besetzten Ländern nachweisen kann, daß ihr Vater ein Besatzungssoldat war: Bei der Sängerin Annagret von ABBA war das so.

Die Akten der WASt helfen, manchen Kriegsverbrecher zu entlarven, bisher hat sie über 350.000 Auskünfte an in- und ausländische Ermittler geben können. Auch „wenn das meiste nicht mehr an den Mann zu bringen ist“, wie Gerhardt einräumt, versucht sie, die Nachlässe gefallener Soldaten an die Angehörigen zu schicken. Das löst häufig immer noch Trauer aus. Seit Eröffnung der Behörde hat die WASt 300.000 Nachlässe gesammelt. Noch heute tauchen, nicht zuletzt wegen der Bautätigkeit in und um Berlin, neue Fundstücke von Gefallenen auf. Jutta Röhl hat einen Bruchteil dieser historischen Kostbarkeiten in Holzkisten gesammelt: Dutzende Uhren, manche noch funktionstüchtig, Orden, Fotos, ein Glasauge, ein Kruzifix, ein Tagebuch aus Neuseeland, ein Bild aus Skopje, eines von einem trinkenden Soldaten und ein silbernes Zigarettenetui: „Zum Andenken an Ostern 1929. Theo“, steht darauf. All das versuche man den Angehörigen zu schicken, erzählt Gerhardt, nur eines nicht: Hakenkreuzbinden.