: Die Befreiung der toten Städte
Vor 100 Jahren wurde im Berliner Pergamonmuseum die Vorderasiatische Sammlung des Hauses begründet. Nicht nur ein Grund zum Feiern: Staaten wie die Türkei, Syrien und Jordanien fordern imperiale Beutestücke aus den Ausgrabungen des 19. Jahrhunderts zurück ■ Von Rolf Lautenschläger
Axel Schultes, Baumeister des neuen Kanzleramtes und selbst Architekt zahlreicher Museen, nannte das Pergamonmuseum einmal „ein Haus für tote Städte“. Die großen Altäre, Tore aus Vorderasien und Babylon, rekonstruierten Straßen und Gebäude, Stadtmauern, Monumentalfiguren und steinernen Löwen seien dort „eingesperrt“, wo sie doch vielmehr ans Licht ihrer Entstehung gehörten. Die Häuser im musealen Haus gelte es zu befreien.
Die Sammlung des Vorderasiatischen Museums, das zu den schönsten der Republik zählt und den größten Teil des Pergamonmuseums bespielt, hat heute, 100 Jahre nach seiner Gründung 1899, noch mit anderen „Befreiern“ zu kämpfen. Die Staaten des vorderen Orients und früheren Mesopotamiens, die Türkei, Syrien, Jordanien und der Irak fordern Stücke des preußischen Kulturbesitzes wieder zurück. Für sie bilden die Ausgrabungen deutscher Archäologen und Expeditionsgruppen im 19. Jahrhundert einen imperialen Raubzug. Selbst wenn zum großen Teil die Stücke erworben, Ausgrabungen und Transporte ganzer Altertümer aus dem 14., 9. oder 6. Jahrhundert vor Christus mit Unterstützung der dortigen Regierungen abgewickelt worden waren, bleibt der Verlust authentischer Kulturgüter heute ein Streitpunkt um das Recht auf die eigene Geschichte.
In der Tat scheut sich das Vorderasiatische Museum zum Festtag nicht, zuzugeben, daß die wunderbaren Stücke – etwa das blaugelbe Ischtar-Tor von Babylon (6. Jh. v.Chr.), die lange Prozessionsstraße aus glasiertem Stein (6. Jh. v. Chr.), die assyrischen Palasträume (9. Jh. v. Chr.) oder die Fassade des Inanna-Tempels und Grabschmuck aus Assur (beide 14. Jh.v. Chr.) – in der Zeit des deutschen Imperialismus zu den Trophäen und Symbolen der „Weltpolitik des Kaiserreichs“ zählten. Weit mehr jedoch wird hervorgehoben, daß in der Geschichte des Vorderasiatischen Museums noch mehr als räuberische Interessen steckten und der Hang, es anderen Großmächten auf dem Kontinent, nämlich England und Frankreich gleichzutun: Mit der Gründung des Museums 1899 durch Friedrich Delitzsch ging die wissenschaftliche Anerkennung altorientalischer Kulturen und der Assyriologie einher, die in der Einrichtung eines Lehrstuhls an der Berliner Universität gipfelte.
Von dort ging die erste Ausstellung assyrischer Reliefs und Gipsabdrücke in Berlin 1889 aus. Der Direktor des Ägyptischen Museums, Adolf Ermann, vergrößterte zugleich die Sammlung vorderasiatischer Altertümer und bemühte sich, diese dem reise- und wissensdurstigen bürgerlichen Publikum zu präsentieren. Zehn Jahre später wurde als Gemeinschaftsprojekt des Museums mit der Deutschen Orient-Gesellschaft die Ausgrabung von Babylon eröffnet: Eine Schau, die zugleich die archäologische und imperiale Besonderheit sowie den wachsenden wirtschaftlichen und politischen Einfluß Deutschlands im Osmanischen Reich demonstrieren sollte.
Wer durch die Sonderausstellung geht, erfährt, daß die ersten Jahre der Vorderasiatischen Abteilung bis zum Ersten Weltkrieg von der gezielten Sammlung großangelegter Ausgrabungen geprägt waren, die noch im Kaiser-Friedrich-Museum gezeigt wurden. Die Grabungswut der Entdecker, die vom preußischen Staat und durch kaiserliche Zuschüsse finanziert worden waren, brachte neben den ersten Ruinen Syriens Funde aus Uruk, Tell Halaf aus dem Nahen Osten sowie aus Zentralanatolien zutage. Neben den fulminanten Bauwerken erschien eine Kultur, die sich neben großen religiösen und kriegerischen Objekten wie Statuen besonders durch feine handwerkliche Produkte und Kunstgegenstände wie Portraits oder Schmuck aber auch mittels beschrifteten Platten hervortat. Staat und Könige erschienen durch die kunstvollen Ornamente und Chiffren als reiche Hochkultur, die Maßstab eigener europäischer Entwicklung sein sollte.
Nach den großen Funden (1917) in Mesopotamien durch Robert Koldewey, die 250 Meter lange Prozessionsstraße in Babylon, das Ischtar-Tor mit seinen Löwen-Reliefs, wurde der Südflügel des Pergamonmuseums ins Auge gefaßt, da für die Konzeption sonst kein Raum gefunden worden wäre. Dort hinein plazierte man in den 20er Jahren die Ziegelbrocken aus 400 Kisten; übrigens zum Entsetzen der Archäologen, die angesichts der übermalten und zurechtgesägten Rekonstruktion die Authentizität verloren sahen. „Wie geleckt“, so Koldeweys Assistent Walter Andrea, hätte das Tor ausgesehen.
Im Mittelpunkt der seit den 30er Jahren aufgebauten Sammlung des Vorderasiatischen Museums stand die zentrale Achse der Prozessionsstraße. Ihr folgten in erster Linie die geographisch aufgeteilten Säle mit Funden aus Syrien und Anatolien, geschmückt mit fragwürdigen Wandgemälden, die einen impressionistischen Eindruck der damaligen Zeit vermitteln sollten. Die Räume links und rechts der Achse waren Nord- und Südmesopotamien gewidmet, so daß im Zentrum der babylonische Kosmos und um ihn herum die sich daraus entwickelnden Kulturen standen. Zur weiteren Erläuterung der historischen Zusammenhänge wurden Originale durch Gipsabdrücke ergänzt und Foto- sowie Bildmaterial der Grabungsarbeiten und topografischen Besonderheiten präsentiert.
Die über 70.000 Fundstücke, die den Zweiten Weltkrieg im Keller geschützt überdauerten und zum großen Teil erst 1958 aus der Sowjetunion zurückgegeben worden waren, wie die jetzige Direktorin Beate Salje gestern sagte, lassen das Museum heute aus allen Nähten platzen. Zwar kann eine völlige Neukonzeption der Sammlung nicht vonstatten gehen, da der Nachkriegsdirektor Rudolf Meyer die großen Reliefs, Mauern und Tore weitgehend in Vertiefungen der Säle eingemauert hatte. Doch durch bauliche Umstrukturierung der Museumsinsel „wird es in einigen Jahren aber eine Erweiterung des Vorderasiatischen Museums im Obergeschoß des Südflügels geben“, so Salje. Diese sei umso nötiger, als derzeit erneute Ausgrabungen in Assur Eingang in die Ausstellung finden müßte. Außerdem praktizieren die Museen Stiftung Preußischer Kulturbesitz derzeit einen regen Austausch mit anderen archäologischen Forschungseinrichtungen, der zusätzliche Flächen für die Objekte verlangt.
Klar jedoch ist, daß nach dem Umbau der Museumsinsel und der Neuordnung der Sammlungen die Inzenierung imperialer Beutestükke wieder, wie einst nach dem Ersten Weltkrieg geplant, die Besucher regelrecht einfangen wird. Während man heute das Pergamonmuseum durch den großen Hof am Kupfergraben betritt und quasi durch den „Nebeneingang“ die große Prozessionstraße des Vorderasiatischen Museums erreicht, wird nach dem Umbau der Eingang des Museums auf die Südseite verlegt. Dann gelangt man als Besucher zuerst in die lange Straße mit ihren Löwenskulpturen und Kriegsgöttern an deren Ende das gewaltige Tor von Ischtar steht – es sei denn, die „toten Städte“ wären befreit.
In den 20er Jahren entsetzten Ziegelbrocken die Archäologen angesichts zurechtgesägter und übermalter Rekonstruktionen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen