: Kampf gegen falsche Traditionen
Die Geschichte der Bundeswehr ist vor allem eine des Streits um ihre Tradition. Schon bei ihrer Gründung in den fünfziger Jahren war die Bundeswehr, die Bundeskanzler Adenauer ausschließlich als Teil der Nato sehen wollte, kaum fähig, sich von der Wehrmacht abzugrenzen. Bis heute halten sich beim „Bund“ Mythen um die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg – Kämpfende, die nur am Führer gescheitert sind. Eine Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht findet erst allmählich statt. Teil XVI der Serie „5 Jahre neues Deutschland“ ■ Von Brigadegeneral a.D. Winfried Vogel
Die erste Bundeswehrführung hatte Kämpfe auszufechten, ehe die Geschichte des militärischen Widerstandes gegen Hitler, symbolisiert im 20. Juli 1944, zum Traditionsbestandteil der Streitkräfte werden konnte. Vier Phasen waren im Streit um die Deutung der Wehrmachtvergangenheit wichtig.
1. Die Auseinandersetzung im sogenannten Amt Blank (1950 bis 1955). Ende 1950 versammelten sich im Eifelkloster Himmerodt ehemalige hochrangige Wehrmachtsoffiziere, die dem Bundeskanzler Vorschläge für eine neue Streitmacht unterbreiten sollten. Neben organisatorischen und operativen Vorschlägen forderten Generäle, zur Lösung der Kriegsverurteiltenfrage den Neuanfang mit einer Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten schlechthin zu beginnen.
Diese Ehrenerklärung sollte übrigens die Waffen-SS mit einbeziehen – anders sei ein deutscher Wehrbeitrag innerhalb der Nato nicht möglich. Angesichts der Notwendigkeit, in die Bundeswehr 1955 und 1956 ehemalige Soldaten der Wehrmacht einstellen zu müssen, erfolgten die gewünschten Ehrenerklärungen. Das Dilemma: Einerseits beriefen sich nun moralisch Schuldige und Unschuldige aller Dienstgrade, Wissende, Nichtwissenwollende und tatsächlich unwissende ehemalige Soldaten der Wehrmacht auf diese Ehrenerklärung. Sie lautete, nebenbei bemerkt, diejenigen deutschen Soldaten verdienten Respekt und Anerkennung, die ehrenhaft gekämpft hätten. (Der zweite Halbsatz wird meist weggelassen.)
Während der spätere erste Verteidigungsminister Blank seine Aufgabe eher darin sah, „einen radikalen Bruch mit dem Militarismus der Vergangenheit zu vollziehen“, wuchs ihm Widerstand in seinem Ministerium und in Teilen der Streitkräfte entgegen von denen, die eine Kontinuität in der deutschen Militärgeschichte forderten – inklusive der Wehrmacht. Unheilvoll wirkte sich damals die Flut von Memoiren hoher Generäle der ehemaligen Wehrmacht aus. Diese lösten in ihren Büchern die von ihnen zu verantwortende militärische Kriegführung auf beinahe wundersame Weise von den politischen Zielen des Regimes. Der Krieg wurde, soweit man ihn nicht als Verhängnis oder als notwendigen Präventivschlag beschrieb, als Werk einer dämonischen Ausnahmepersönlichkeit, eben als Hitlers Krieg interpretiert.
Das Werben der Bundesregierung um die in den Soldatenverbänden zusammengefaßten früheren Wehrmachtsangehörigen einerseits und das Betonen der Unabdingbarkeit der Anerkennung dieser Demokratie auf der anderen Seite, führte zu einer unklaren Antwort auf die Frage, ob die Bundeswehr nun ein Neubeginn einer Wehrpflichtarmee in der Demokratie sei oder doch eine stark von Kontinuitäten geprägte Streitmacht. Selbst der spätere Verteidigungsminister Franz-Joseph Strauß formulierte 1953 im Streit um die Übernahme von Wehrmachtssoldaten: „Wer nichts dazugelernt hat, soll draußen bleiben. Wer aber gelernt hat, der ist aufgerufen, auch in Zukunft mitzuarbeiten.“
2. Die Gründungsphase der Bundeswehr – eine Zeit ohne Traditionserlaß (1956 bis 1965). Der Streit um die Traditionslinien der Bundeswehr bestimmte die Zeit bis 1965. Prüfstein der Gesinnung in der Bundeswehr wurde die Bewertung des Widerstands vom 20. Juli 1944. Die gewünschte Bejahung der Tat Stauffenbergs und anderer fand sich in einer undeutlichen Kompromißformel wieder: Einerseits seien die ethischen Motive derer, die am Widerstand beteiligt gewesen waren, zu respektieren; aber auch jene, die aus ihrer Sicht ihre Pflicht getan und an der Front weitergekämpft hätten bis zum 8. Mai 1945, hätten keine Schuld auf sich geladen.
Die ersten Verbände der Bundeswehr entstanden 1958. Sie füllten den Freiraum der Traditionspflege durch erheblichen Wildwuchs, indem sie Gepflogenheiten übernahmen, wo sie sie für richtig hielten. Das Verteidigungsministerium untersagte ihnen die Übernahme von Traditionen ehemaliger Reichswehr- und Wehrmachtsverbände, wenn diese nicht ausdrücklich erlaubt seien. Das war quasi der erste Traditionserlaß der Streitkräfte: kein Wegweiser, sondern ein Stoppschild.
1965 schließlich wurde in der Bürokratie des Verteidigungsministeriums der erste Traditionserlaß der Bundeswehr verabschiedet. In ihm versuchte man, viele Kompromisse zu schließen, wo dies nicht möglich war. Entsprechend kritisch wurde er aufgenommen. Den einen ging er zu weit, den anderen nicht weit genug.
3. Der Weg zu den Traditionsrichtlinien vom September 1982. Krisen in Organisation und Ausrüstung der Bundeswehr, die Achtundsechzigerbewegung mit ihren unbequemen Fragen und der Anstieg der Kriegsdienstverweigererzahlen führten in der Bundeswehr Ende der sechziger Jahre zu Generalsrücktritten und zu einer vom Inspekteur des Heeres zu verantwortenden Studie, die Forderungen an die Gesellschaft der Bundesrepublik enthielt, die an die Zeit der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg erinnerten. Die Konsolidierung der Streitkräfte durch die sozialdemokratischen Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Georg Leber sorgte ein knappes Jahrzehnt lang für Ruhe in der Diskussion um die Bundeswehr. Ende der Siebziger wurden die Streitkräfte der Bundesrepublik jedoch in eine heftige Diskussion über den Sinn von Zeremoniell, Verteidigungen, Gelöbnissen und Texten von Soldatenliedern verwickelt. SPD-Verteidigungsminister Hans Apel versuchte eine Diskusion um das Thema Tradition der Bundeswehr zu fördern. Leider blieb sie nur vordergründig und beschäftigte sich in bester deutscher Art mit Textstellen aus dem Großen Zapfenstreich und dem Soldatenliederbuch, statt sich um Substanz zu bemühen. Substanz hatte ein Artikel von Professor Manfred Messerschmidt, dem Leitenden Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, der die Zeremoniediskussion, fälschlicherweise Traditionsdiskussion genannt, auf das Thema Wehrmacht und Bundeswehr zurückführte.
Er überschrieb seinen Artikel mit dem Titel „Kein gültiges Erbe“ und unterstrich, daß die Beschäftigung der Militärgeschichtsforschung mit der Wehrmacht ihr Bild immer düsterer werden lasse. Am 20. September 1982, knapp zwei Wochen vor dem Ende der sozialliberalen Regierung Helmut Schmidts, erließ Minister Apel mutig neue Traditionsrichtlinien, die mit klaren Worten feststellten: „Die Geschichte deutscher Streitkräfte hat sich nicht ohne tiefe Einbrüche entwickelt. In den Nationalsozialismus waren Streitkräfte teils schuldhaft verstrickt, teils wurden sie schuldlos mißbraucht. Ein Unrechtsregime, wie das Dritte Reich, kann Tradition nicht begründen.“ Da der neue Verteidigungsminister Manfred Wörner sofort erklärte, diesen Erlaß „in Kürze“ aufzuheben, hatte dessen praktische Bedeutung in der Truppe kaum Gewicht.
4. Der Kampf mit der Tradition seit 1982. Es begann eine eher mutlose Phase des Lavierens, wo sich in einigen Garnisonen erhebliche Widerstände vor allem gegen Kasernennamen bildeten, zum Beispiel in Füssen gegen die Benennung einer Kaserne nach Generaloberst Eduard Dietl. Erst 1995 unterstrich CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe die Gültigkeit des Erlasses seines Vorgängers Apel, indem er feststellte, die Wehrmacht sei als Organisation des Dritten Reiches in Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt gewesen und könne deshalb als Institution keine Tradition begründen. Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat sich jüngst an der Führungsakademie in die Kontinuität seiner Vorgänger bei der Bewertung der Wehrmacht gestellt. Es hat seitdem nicht an der Klarheit der Erlasse gefehlt, sondern an ihrer Realisierung und Umsetzung. Es bleibt zu hoffen, daß Minister Scharping damit nun Ernst macht. Wobei wichtig wäre, den jungen Soldaten und Offizieren zu erklären, warum die Wehrmacht kein Vorbild für die Bundeswehr sein kann. Verbrechen des Ausrottungs- und Vernichtungskrieges, aber auch die an Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Zivilpersonen in den besetzten Ländern begangenen Verbrechen müssen von der obersten Führung klar beim Namen genannt werden. Denn der junge Soldat erlebt von Kameraden anderer Streitkräfte arglose Bewunderung für die militärischen Leistungen der Wehrmacht – und fragt sich kopfschüttelnd, warum ihm zu Hause eine Traditionslinie zu dieser Streitmacht untersagt wird.
Die Streitkräfte stehen zudem vor Fragen, die vornehmlich ihre eigene Zukunft betreffen. Was wird aus der Wehrpflicht? Was aus der so oft betonten Notwendigkeit der Heimatverteidigung, nachdem die Bundesrepublik nach dem gerade vollzogenen Natoeintritt Polens, Tschechiens und Ungarns nur von Freunden umgeben ist? Ist es so, wie Egon Bahr festgestellt hat: „Die alte Bundeswehr hat ihre Pflicht getan und wird nicht mehr gebraucht. Eine für Soldaten bittere, eine für Deutschland jedoch erfreuliche Erkenntnis.“
Inzwischen haben unsere westlichen Verbündeten die Wehrpflicht ausgesetzt. Aus dem Heimatverteidiger während des Kalten Krieges wurde der Miles protector, der Soldat, der in Blauhelmaufträgen in internationalem Auftrag Schutzfunktionen ausübt. Nun haben wir zudem den Kampfsoldaten, der in Bürgerkriege eingreift, um die Deportation und Ermordung der Zivilbevölkerung zu verhindern. Was wird mit einer solchen Armee, die im eigenen Land kaum in Erscheinung tritt und als Teil eines internationalen Expeditionskorps Kriege zu führen hat? Für die Verteilung von Friedensdividenden, Feierstunden zur Abschaffung der Armee, wie nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes gefordert, scheint es noch zu früh. Der klassische Soldat als Kämpfer wird noch auf absehbare Zeit das Bild einer Streitmacht bestimmen, auch in Deutschland.
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