Vom Rand zur Mitte

Zehn Jahre nach 1989 tut sich Deutschland schwer mit der neuen Mitte. Von den Kapriolen städtischer Seelengeographie. Berlin revisited, Teil IV    ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Wieder einmal beginnt die Saison der Dauercamper. Sofern sie zwischen Rummel, Schuttlager und umzäunten Ruinen noch Platz finden, werden sie sich wie im vergangenen Jahr in der Mitte der Republik niederlassen, auf jener Asphaltfläche namens Schloßplatz. Dort, wo man die Dauercamper eigentlich vermuten würde, ist es inzwischen eng geworden. In zahllosen Landstrichen der Peripherie, die man, wie Alt-Glienicke oder Französisch Buchholz, erst im Stadtplan nachschlagen muß, wurden seit der Wende Baumassen zu einer Skyline aufgetürmt, die einer Metropole würdig wären. In ihrer Mitte gähnt immer noch die Leere. Alles, was am zentralen Ort der Stadt wie des Landes bisher geschah, erschöpfte sich in der systematischen Ausräumung von Insignien: Seine Außenvertretung in Form des gleichnamigen Ministeriums wurde abgerissen, der Neubau des Ministeriums außer Reichweite gedrängt, der Palast der Republik zur Entsorgung vorbereitet. Die Leere der Spreeinsel ist steinerne Mahnung, daß es das verwaltungstechnisch verschnürte Deutschland in zehn Jahren nicht geschafft hat, die Einheit zu vollenden. Dem deutschen Haus fehlt bis auf weiteres ein gemeinsames Dach.

Um die Schwierigkeiten zu erklären, wird meist auf die ideologischen Hürden verwiesen: Das Zentrum, das die sozialistische DDR hier einrichtete, tauge eben nicht als Kristallisationspunkt des vereinten Landes. Das ist die Westsicht. Dabei ist heute nichts so obsolet wie die einstige Weltanschauung. Was bleibt, ist die Tatsache, daß es der DDR gelang, ein Zentrum zu schaffen und dabei den Ort beizubehalten, der dazu gereift war, seitdem sich die brandenburgischen Herrscher dort 1443 niedergelassen hatten. Die zentralistische Organisationsstruktur des Staates war dabei hilfreich. Sie allein reicht nicht. Die eigentliche Errungenschaft lag vielmehr darin, nicht auf dem Repräsentationsbedürfnis der Herrschenden, sondern auf der Gemeinsamkeit aller Bürger aufzubauen. Eben diesen Geist – der letztlich zur Basis der 89er Revolution wurde – spiegelt das mediokre Erscheinungsbild des Palasts der Republik.

Vergleichbares hat der Westteil Deutschlands nicht hervorgebracht,nicht einmal angestrebt. Nicht nur, daß man hier von allen traditionellen Mitten abgeschnitten war. Die alte Bundesrepublik wollte nie mehr sein als die Summe ihrer Bürger. Die Leistung ihrer neuen Verfassung besteht gerade darin, einen Grundrechtskatalog ihrer Verfassung voranzustellen, der die freie Entfaltung des Individuums zum obersten Wert erhebt. Vielfalt, nicht Einheit war wichtig. Zentrum war nach westdeutschem Verständnis der einzelne. Das reichte, bis die Integration anderer historischer und sozialer Erfahrungen auf die Tagesordnung trat. In der alten Bundesrepublik blieb der Staat – von Natur aus Sachwalter des Gemeinwohls – der in Einzelkämpfer atomisierten Gesellschaft fremd, er hatte tunlichst jede Konzentration zu vermeiden und Macht dezentral zu organisieren.

Das schlug sich in Planung und Bau nieder. Architekten jagten individuellen Vorstellungen von Baukunst nach. Die Umgehungsstraße wurde zum Fetisch der Verkehrsplaner. Während Ostberlin die Radialen, die auf die Stadtmitte zuliefen, ausweitete, ummantelte man das Kerngebiet des Westteils mit dem Stadtring. Die dem historischen Zentrum nächste Zone nannte man hier ebenso ehrfürchtig wie hilflos „zentraler Bereich“. Stadt war in der Sprache der Planer ebenso wie den Köpfen ihrer Bürger keine hierarchisch gegliederte Einheit, sondern ein „polyzentrales“ Gebilde. Das Thema Mitte blieb jahrzehntelang unbearbeitet.

Dadurch wurde versäumt zu reflektieren, wie sich Mitte durchaus demokratisch und pluralistisch gestalten läßt. Das Ideal war nicht die Metropole, in der alles zusammenkommt, sondern der Schrebergarten, besetzt bestenfalls mit einem Einfamilienhaus. Knöterich, der sich auf Trümmergrundstücken ausgesamt hatte, galt als unantastbar.

Angesichts der westlichen Zentrumsunwilligkeit wundert es nicht, daß die Potentiale, die die

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Einheit entfesselt hatte, nicht genutzt werden konnten, um der Stadt ein klares Gefüge und der neuen Republik einen Kristallisationspunkt zu geben. Da ein Masterplan fehlte, verzettelten sich die Bauprojekte Berlins an zahllosen Orten. Charakteristische Quartiere, wie sie mit den Mietskasernen in der Innenstadt oder mit den Villensiedlungen in ihrem Vorgarten während des Kaiserreichs oder mit der Freizeitlandschaft von Köpenick selbst noch in der Nachkriegszeit geprägt worden waren, entstanden dabei nicht. Statt dessen folgten sie überall dem gleichen, rein formalen Stadtideal, das sich seit der Internationalen Bauausstellung 1987 zum Leitbild verfestigt hatte. Die Identitätsdefizite haben heute an den Vermarktungsproblemen der Surrogatstädte wie Neu-Karow oder der Havelspitze am Spandauer See einigen Anteil.

Während am Rand der Stadt immerhin gebaut wurde, geschah in der Mitte ihrer Mitten nichts. Die historische Kraftanstrengung des Hauptstadtprojektes konnte nicht genutzt werden. Die Chance, die sich 1994 aus dem zweiten großen Regierungswettbewerb ergab, der auf der Spreeinsel das Außenministerium vorsah, wurde vertan. Eine Allianz der Staatsverdrossenen aus Ost und West verhinderte jedoch den Neubau der Außenvertretung des geeinten Deutschlands mit der Begründung, der Staat wäre keine angemessene Repräsentanz seiner Bürgerschaft. Seither versucht es, im Spreebogen sein eigenes Zentrum neu zu bauen, was fern des traditionellen Schauplatzes das Risiko birgt, als bloße Inszenierung zu enden.

Während sich Interessen anderswo schnell zu Baumassen verfestigen, mußten Bedeutung und Gestalt der Mitte erst in einem kontroversen Diskussionsprozeß gesucht werden. Zwei Projekte hatten daran besonderen Anteil: zum einen das Planwerk Innenstadt von Stadtentwicklungsstaatsekretär Hans Stimmann. Es schrieb das Primat der Mitte fest, ein Ansatz, der Ende 1995 noch als Provokation angesehen wurde, sich jedoch nach langen Diskussionen inzwischen durchgesetzt hat.

Noch bedeutender, weil weniger abstrakt, war die Initiative für den Wiederaufbau des Stadtschlosses, die im Sommer 1993 die Leere des Platzes vor dem Palast der Republik mit einer Attrappe der alten Hohenzollernburg füllte. Als Baugestalt ist das Ganze nach wie vor ein Luftschloß. Doch gerade weil es sich einer Hilfskonstruktion bediente, sich auf das bezog, was vor der DDR gewesen war, erlaubte es auch zentrumsentwöhnten Westlern, sich zur Mitte zu bekennen. In der Debatte um das Schloß stand nur anfangs die Frage der Architektur im Mittelpunkt. Heute ist sie längst in den Hintergrund getreten. Wenn dereinst überhaupt etwas rekonstruiert wird, so ist es die Fassade, und selbst dafür ist bereits eine Zwitterlösung aus Schloß und Palast angedacht.

Wenn man das Luftschloß mit Inhalten füllt, wird ohnehin schnell deutlich, daß die ursprüngliche Baugestalt unangemessen ist. Das Schloß wurde zu einem Halte(be-)griff, anhand dessen sich trefflich über den Sinn eines Zentrums diskutieren ließ. Die Debatte ist noch lange nicht zu Ende. Unklar ist neben der Architektur noch die Nutzung. Alle Vorschläge, mit denen man das Luftschloß zu füllen trachtet – Bibliothek, Tagungszentrum, Hotel etc. –, unterbieten die gesellschaftliche Relevanz, die der Palast der Republik einst hatte. Ebenso abwesend ist bisher ein Initiator: Dem Förderverein und den Sponsoren in Gestalt deutscher Großkonzerne fehlt die demokratische Legitimation, die für ein solches Vorhaben unabdingbar ist. Solange nicht zu erkennen ist, daß das Volk hier – wie etwa bei der Dresdner Frauenkirche – selbst die Bauherrenschaft übernimmt, kann den Bau letztlich nur einer organisieren: der Staat. Solange diese Fragen nicht geklärt sind, wird das Projekt nicht einmal die Baureife erlangen.

Ebensowenig bestreiten läßt sich freilich, was die Debatte schon erreicht hat: Sie hat gezeigt, daß eine Mitte notwendig ist. Und sie hat ihr den Ort zugewiesen: die Spreeinsel, genauer: den Schloßplatz. Ebenso festgezurrt hat sie die Zielgruppe: Der Ort soll den Bürgern der Stadt und des Landes dienen. Der Grundstein in den Köpfen ist gelegt – das ist letztlich mehr, als angesichts der Ausgangslage zu erwarten war.

Teil V erscheint am 5. Juni: Die Teilung nach der Teilung