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Alles erinnert an Pristina

Bei einem Spaziergang durch Berlins Mitte sehen die Kinder der Flüchtlingsfamilie Krasniqi aus dem Kososvo die Stadt mit anderen Augen als die üblichen Berlinbesucher    ■ Von Julia Naumann

Die Sonne strahlt auf die gläserne Kuppel des Reichstages. Der Tiergarten leuchtet im satten Grün. Auf den Baustellen rund um Daimler-City rotieren die Kräne. Doch dafür hat Adelina Krasniqi keinen Blick. Die 19jährige Kosovarin hat nach einem Monat Aufenhalt im Flüchtlingswohnheim in Hohenschönhausen das erste Mal den Bezirk verlassen – sie macht mit ihren drei Geschwistern, einer Freundin, die sie im Wohnheim kennengelernt hat, und einer Dolmetscherin einen Ausflug in die Innenstadt. Über eine Stunde sind sie mit Straßenbahn und S-Bahn gefahren, um dorthin zu kommen, wo alle hinwollen, die zum ersten Mal in der Stadt sind: auf die knallrote Info-Box am Potsdamer Platz.

Doch oben auf der Plattform schenkt Adelina Krasniqi dem Baustellenwirrwarr lediglich ein paar kurze Blicke. Sie interessiert sich nur für ein Gebäude: das Hochhaus der Charité. Wie gebannt starren sie und ihre beiden Schwestern Rrezarta und Gezime auf das 21geschossige Bettenhaus, das gut erkennbar nur einige Kilometer weit entfernt in Mitte liegt. „Ich kann es nicht glauben“, flüstert sie aufgeregt. „Ich kann es nicht glauben.“ Dann schluckt sie, und sagt etwas lauter: „Dieses Haus sieht aus wie die Post in Pritina. Sogar die Fenster haben die gleiche Form und Größe.“ Die anderen nicken heftig.

Dann wollen sie von der Dolmetscherin alle Fakten wissen: Was für ein Krankenhaus die Charité ist, wann es erbaut wurde, wer dort operiert wird. Mit aufgeregter Stimme erzählt Adelina danach von Pritina: Die Post sei ein zentraler Ort gewesen, im Stadtteil Dardania, wo die Familie Krasniqi gewohnt hat, bevor sie vertrieben wurden. In der Post hätten jedoch nur Serben gearbeitet, obwohl in dem Stadtviertel alle Gruppen gleichberechtigt gelebt hätten. Doch die Freude über den unverhofften Zufall, der die Heimat wieder ein Stück näher bringt, ebbt schlagartig ab, als Adelina sagt: „Die Post ist bestimmt kaputt.“ Schweigen. Die Mädchen wollen die Info-Box verlassen.

In den Fernsehnachrichten ist an diesem Abend ein Film von einem deutschen Journalisten zu sehen, der erstmals nach drei Wochen exklusiv in Pritina filmen durfte. Er zeigt eine von Bomben total zerstörte Innenstadt.

Auch auf dem Weg über den Potsdamer Platz, vorbei am Cinemaxx, am Musicaltheater und dem Casino, bleiben der Krieg und Pritina das einzige Gesprächsthema. In den Arkaden wollen die fünf sich nur flüchtig die Schaufenster angucken, an den vielen Läden gehen sie achtlos vorbei. Viel größer ist das Interesse an den zahlreichen in blauen Hemden gekleideten Wachschutzmännern, die mit gelangweilter Miene vor den Shops auf und ablaufen. „Die serbische Polzei hatte auch manchmal blaue Uniformen an“, sagt Adelinas Schwester Rrezarta. Daraufhin erzählt sie die Geschichte, wie die Familie am 2. April aus ihrer Wohnung in Pritina vertrieben wurde. Die Männer, die sie abführten, hätten Masken getragen. Die Familie habe keine Zeit gehabt, persönliche Dinge mitzunehmen. Der Vater mußte in den Pantoffeln seiner Frau flüchten. Die Krasniqis wurden in einem Zug bis an die Grenze Makedoniens gekarrt, erzählt Rrezarta. Dort lebten sie jeweils eine Woche im Lager Blace und Skenkovac, bis sie nach Berlin ausgeflogen wurden.

Die Gespräche über den Krieg bestimmen den Tagesablauf der Familie Krasniqi, nicht nur am Potsdamer Platz, sondern auch jeden Tag. Es gebe kein anderes Thema, sagt Adelina bestimmt. Die Fragen seine immer die gleichen: „Wo sind die Verwandten und Bekannten geblieben? Gibt es Hoffnung, sie bald wieder zusehen?“ Adelina schießen ein paar Tränen in die Augen, die sie schnell wegwischt. Heute weint sie zum ersten Mal. Auch das ist normal geworden. „Dafür schäme ich mich nicht“, sagt sie und versucht zu lächeln. Dann fällt ihr Blick auf ein Stück Kopfsteinpflaster am Potsdamer Platz. In Dardania, erzählt sie, seien die Straßen genauso gepflastert gewesen.

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