: Millimeter machen große Kurven
Bögen nach dem Prinzip einer Holzspielzeug-Schlange: Wie tief unter der Elbe die vierte Tunnelröhre aus 1300 Betonringen zusammengebaut wird ■ Von Gernot Knödler
Tief drunten unter der Elbe ist es ein wenig feucht, aber warm. Ein Extra-Pullover ist nicht nötig. Ein Blaumann auch nicht. Denn die vierte Elbtunnelröhre ist eine saubere Sache – zumindest für eine Baustelle. „Durch den Tunnel können Sie auch im Smoking gehen“, sagt Siegfried Zell. Der pensionierte Ingenieur sagt das nicht ohne Stolz, hat er doch bis vor sechs Wochen noch selbst an dem Hunderte von Millionen Mark schweren Projekt mitgearbeitet.
Mit sanftem Schwung weist eine Lichterkette den Weg Richtung Övelgönne – nicht in die Tiefe, denn das Gefälle des Tunnels ist sanft: es beträgt 3,5 Prozent. Bei Autobahnen seien höchstens vier Prozent zugelassen, sagt Zell. Rechts an der Tunnelwand entlang haben die Arbeiter einen Steg für Fußgänger gebaut, etwa in Höhe der zukünftigen Fahrbahn. Einige Meter darunter liegen auf Holzbohlen die Gleise einer Kleinbahn, die mit viel Getöse Material und Arbeiter zum Bohrkopf bringt.
Von der anderen Tunnelseite her klackert es, als würden in einem riesigen Saal Tausende von Billard-kugeln gegeneinanderprallen: Durch ein halbmeterdickes Rohr rumpelt das Geröll, das Trude, die Tunnelbaumaschine, einen Kilometer weiter aus dem Boden unter der Elbe gegraben hat. Mit Schälmessern und Meißeln schabt ihr Bohrschild aus Sand, Ton und Findlingen handliche Stücke heraus. Doch weil zwischen den Speichen des 14,20 Meter großen Bohrschilds Lücken klaffen, rutschen bis zu 1,20 Meter große Felsbrocken hinter das Schneidrad.
Auch sie haben keine Chance: Ein Steinbrecher zertrümmert sie in höchstens kopfgroße Stücke, die zusammen mit dem übrigen Schutt in einer breiigen Flüssigkeit zum Tunneleingang gepumpt werden. Eine haushohe Separieranlage oben vor dem Startschacht trennt das grobe vom feinen Material. Sand, Kies und Mergel werden in die Elbe gekippt; der zähe, vollgesogene Ton pladdert vom Förderband auf eine Halde. Die betonfarbene Masse spritzt gut 15 Meter weit, die Zuschauer zucken zurück.
Keiner will den unbelasteten Matsch haben, denn er wirkt wie ein Sumpf. „Wenn Sie da drin stecken, kommen Sie aus eigener Kraft nicht mehr frei“, sagt Ingenieur Zell. Matsch-Deponien müssen abgesperrt werden. Bis der wabbelige Ton trocken ist, dauert es Jahre.
Zurück in die Röhre, die zur Zeit noch in ihrer wunderbaren Rundheit zu sehen ist: Die glatten Beton-Fertigbauteile der Tunnelwand sind bis auf millimeterschmale Fugen aneinandergepreßt. Jeweils acht Stahlbeton-Segmente bilden zusammen mit je einem keilförmigen Schlußstück einen Tunnelring. Die Tunnelwand wird sich aus insgesamt 1300 solcher ungefähr zwei Meter breiter Ringe zusammensetzen.
Das „ungefähr“ ist in diesem Fall entscheidend. Denn es ermöglicht den Ingenieuren, mit einem simplen Trick Kurven zu bauen, obwohl sie nur zwei Arten von Ringen verwenden: welche für Rechts- und welche für Linkskurven. Während jeder Ring auf der einen Seite 2,03 Meter breit ist, verjüngt er sich zur gegenüberliegenden Seite hin auf 1,97 Meter. Wie bei einer Spielzeugschlange aus Holz werden die Ringe entweder so gegeneinander gedreht, daß sich die Differenzen für Geraden ausgleichen oder für Kurven verstärken. Millimeter-Abweichungen sorgen für den eleganten Schwung der Röhre vom Maakenwerder Höft hinüber nach Othmarschen.
Entsprechend stolz ist Zell auf die Genauigkeit, mit der die 70 Zentimeter starken Ringsegmente gegossen werden: In der Breite dürfen sie höchstens 0,6 Millimeter abweichen. „Das kriegen sie mit den Fingern nicht dargestellt“, sagt Zell. Seitlich gegeneinander versetzt werden dürfen die Betonsegmente immerhin um anderthalb Zentimeter. Mehr allerdings nicht, sonst greifen Nut und Feder der Betonteile nicht mehr ineinander und die doppelten Gummidichtungen mit denen die Segmente und Ringe aufeinandertreffen, überlappen sich nicht mehr ausreichend. Das Gummi ist getestet: Es muß 120 Meter Wassersäule aushalten und wie alle Tunnelteile hundert Jahre halten.
Auf speziellen Drehloren ziehen Dieselloks die Tunnelsegmente nach vorne zur Trude. Daß die provisorisch zusammengebastelten Gleise jeweils rund 18 Tonnen Gewicht verkraften, ist ein Wunder. Jeder Tunnelring wiege soviel wie anderthalb Dieselloks, sagt Zell – aber wie richtige Bundesbahnlokomotiven und nicht wie die Winzlinge der Tunnelbahn.
Die Loren fahren bis auf etwa 15 Meter an das Bohrschild heran. Dort packt der Arm des „Erektors“ den Tunnelring mit seinem Vakuum-Fuß; wie ein Zeiger auf dem Zifferblatt sitzt er im Röhrenquerschnitt, schwenkt das Ringsegment an die vorgesehene Stelle und preßt es gegen die bereits eingebauten Segmente. Weil der Saugfuß alleine die Tunnelringe nicht ausreichend im Griff hätte, sind eimerförmige Vertiefungen in sie hineinbetoniert worden. Dort kann der Erektor zupacken. Ist ein neuer Ring fertig, wird er von innen durch Hydraulikstempel stabilisiert, so daß er sich nicht zum Oval abflacht und der nächste Ring womöglich nicht mehr paßt.
Mit anderen, waagerechten Stempeln drückt sich der Bohrkopf von der Stirn des Tunnelrings ab. Auf diese Weise schiebt er sich nach vorne und preßt gleichzeitig die fertiggestellten Tunnelringe mit ungeheurem Druck gegeneinander. Die Hartfaserbeläge, die das Zusammentreffen von Beton auf Beton bei den Tübbingen dämpfen sollen, werden dabei von 3,2 auf 1,9 Millimeter Dicke zusammengequetscht.
Den Tunnel dicht zu kriegen, ist offenbar trotzdem schwierig. Immer wieder zeigen sich feuchte Stellen und verkrustete Rinnsale an der Tunnelwand. Ausgerechnet bei einem Schild, das den „Tiefpunkt“ der 14 Meter langen Elbröhre markiert, steht außerdem ein Baugerüst. Mit Kunstharz dichten Arbeiter hier die Fugen ab, die entstanden, als die Röhre unvorhergesehenen Auftrieb erhielt: Der Boden über dieser Stelle der Röhre war lockerer als erwartet.
Wie eine riesenhafte Blechbüchse ist die Tunnelbohrmaschine Trude über das vordere Tunnelende gestülpt. Schiebt sie sich nach vorn, entsteht zwischen Tunnelwand und Erdreich ein 17 Zentimeter breiter Spalt, der sofort mit Beton vollgepreßt wird, damit der Boden nicht einsackt. Bis dato wäre das kein großes Problem gewesen, doch als nächstes untergräbt die Trude die Häuser am nördlichen Elbufer. „Jetzt wird erstmals der Beweis angetreten, daß das System setzungsarm fährt“, sagt der Tunnelbauer Zell.
Zurück geht es mit der Grubenbahn. Langsam bugsiert ein Arbeiter die Wagen über eine wackelige Weiche: Endbahnhof Startschacht in 18 Metern Tiefe. Hier hat Trude vor gut anderthalb Jahren angefangen zu graben, „tief runter unter die Elbe“ – daher ihr Name. Zell weiß auch, warum ein weiblicher Name ausgesucht wurde: Schließlich heiße es ja „die Schildvortriebsmaschine“.
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