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Die Grille im Herzen

Zwischen Rotem Platz und Papirossy: Zum 200. Geburtstag des russischen Dichters Alexander Puschkin liest ganz Moskau aus dem „Eugen Onegin“  ■   Von Katja Hübner

„Puschkin ist universal“, sagt Natascha, „es wird ihn ewig geben, und alle werden ihn immer lieben.“ Moskau, im Mai 1999. Der Frühling hat das russische Herz und die russische Luft in Unruhe versetzt. Wie Kumuluswolken wirbelt das silbergraue Haar um den Kopf eines Mannes auf der Rolltreppe der Metrostation „Sportiwnaja“, jeder Luftstrom ein kleines Gewitter. „Mein Onkel handelt gut und richtig“, rezitiert er expressiv. Seine Brust wölbt sich kurz, dann ist der nächste dran. Zeile für Zeile, Strophe für Strophe: Ganz Moskau liest seit vier Wochen aus dem Nationalepos „Eugen Onegin“ von Alexander Sergejewitsch Puschkin. Ein Moskauer Fernsehsender feiert auf diese Weise den 200. Geburtstag des wohl größten russischen Poeten, der am 26. Mai 1799 (altrussischen Kalendariums) in Moskau geboren wurde. In der Metro, auf der Straße, im Warenhaus, in der Gaststätte; zwischen saurer Sahne, Rotem Platz und Papirossy; überall lauert Rußlands „ein und alles“. Goldverzierte Lettern auf dem Buchrücken bringen seinen Namen zum Glänzen: P U S C H K I N. Eine Frau mit Strickmütze und hohen Wangenknochen klammert sich an dem Buch mit dem braunen Ledereinband fest wie an der Bibel. „Jetzt plötzlich sterbenskrank zu sein“, zitiert sie mit Pathos. So daß ihr Tuch über die zarten Schultern rutscht.

Nicht Tolstoi, Turgenjew oder Dostojewski – Puschkin ist der Nationaldichter Rußlands. Puschkinmuseum, Puschkinstraße, Puschkinplatz, es gibt keine Stadt im europäischen Rußland, in der nicht eine Puschkinbüste einen Boulevard oder einen Park schmücken würde. Doch Puschkin ist kein Goethe oder Schiller, kein Dichter, der aus Verpflichtung geehrt werden müßte. Puschkin ist Puschkin, der erste russische Schriftsteller von Weltbedeutung, bei dessen Namensnennung heute noch Augen leuchten und Wangen glühen. „Oi Puschkin“, sagt Natascha wie elektrisiert, „Puschkin ist der Größte.“ Natascha ist 18 Jahre alt; ihre Eltern haben Puschkin gelesen, ihre Groß- und Urgroßeltern und sie jetzt auch. In Puschkin vereint sich die russische Liebe zum poetischen Wort, vereinen sich sämtliche Generationen, vereint sich die ganze russische Nation. Puschkins romantische Liebesgedichte, seine volkstümlichen Märchen und bunten Alltagsgeschichten leben in Rußland weiter wie der russische Samowar.

Man stelle sich einen Mann mit sinnlich vollen Lippen und gekräuseltem Haar vor (Puschkins Großvater war ein abessinischer Prinz aus dem Tschad), in einem weiten schwarzen Frack und einem breitkrempigen Hut. Einen empfindsamen und ungestümen Don Juan, über den Nikolai Gogol einmal sagte, er sei „eine außerordentliche und vielleicht einzigartige Erscheinung des russischen Geistes“. Einen genialen Lebenskünstler, dem nicht viel an seinem aristokratischen Elternhaus lag und der bei aller Tragik seines Lebens – seine politische Dichtung zur Zeit des Dekabristenaufstandes brachte ihm die Verbannung ein – auch glücklich war. Der Dichter Gawrila Derschawin weihte Alexander Puschkin, der erst 16 war, in einem Lyzeum in Zarskoje Selo (heute Puschkino) zum Poeten und legte damit den Grundstein für eine neue russische Literatursprache. Nicht schwer, sondern leicht; knapp, aber präzise; gewandt und verwegen: „Onegins Freiheitsperiode begann; wie aus dem Ei gepellt, frisiert nach letzter Dandy-Mode, so trat er in die große Welt.“ Und die „Grille“, wie Puschkins Deckname im literarischen Lyzeumsbund „Arsamas“ lautete, trat ein in die große russische Dichterwelt, bezirpte sie mit seinem lyrischen Gesang und wurde in ihr unsterblich.

Die gesamte große russische Literatur nach Puschkin, so sagte Dostojewski einmal, komme geradewegs aus Puschkin. Der Dichter, obwohl selbst nie im Ausland gewesen, dialogisierte die russische Wortkunst griechisch-byzantinischen Ursprungs mit westeuropäischen literarischen Stilmustern. Ziel der Puschkinschen Poesie war die Poesie selbst; im Verzicht auf literarische Konventionen sah Puschkin den Weg zur künstlerischen Wahrheit. Prosa, Lyrik, Poem, Roman in Versen, Märchen – sein ganzes Leben lang versuchte er, ganz nach der Philosophie Schlegels, „derselbe und doch ein anderer zu sein“, um frei seinen ästhetischen, kulturellen und weltkünstlerischen Hunger zu befriedigen. „Er besaß die glückliche Gabe, im Gespräch alles mögliche leichthin zu streifen“, heißt es im „Eugen Onegin“, und es klingt wie Puschkinsche Ideologie. Sich gleichsam in einem luftleeren Raum aufhaltend, aus dem heraus er alle Gegensätze aufhob, war Puschkin nicht nur ein Vertreter der „romantischen Ironie“, sondern er war ein weißes Blatt, das jeder nach seinem Belieben beschriften konnte. Für die Kenner von Kunst und Literatur wurde er zum glänzenden Techniker poetischer Stilformen, für den jungen aufstrebenden Adel zum Gegner der Autokratie, für die Expatriierten zum Verfechter von Freiheit und Menschenwürde. Besonders aber wurde Puschkin, der in seinen Werken die saftige Poesie mit der plaudernden Prosa der Wirklichkeit verband, zum volksverbundenen Milieudichter der russischen Nation. Dem westeuropäischen Leser hingegen blieb der „Goethe des Ostens“ bis auf seinen Namen weitgehend unbekannt, was Anna Seghers und Rainer Maria Rilke auf die unübersetzbare poetische Kraft der russischen Puschkinschen Dichtung zurückführten.

„Prophet, erstehe und erkenne“, schreibt Puschkin in einem Gedicht über sein Dichteramt, und nahezu prophetisch ist in Puschkins Werken oftmals der Tod ganz nah dabei, beharrlich wie ein dunkler Schatten: „Das alles, meine Freunde, sollte bedeuten: ich duelliere mich mit meinem Freund“, steht im „Eugen Onegin“, und ein Duell zwischen Puschkin und dem Liebhaber seiner Frau sollte 1837 das erste Leben des großen Dichters beenden. Das zweite indes, das postume, sollte beginnen.

Moskau, Mai 1999. Seit Tagen besucht eine ältere Frau die Buchhandlung in der „Twerskaja“, der Hauptstraße Moskaus. Ihr Gesicht ist runzlig, ihre dünnen Beinchen versinken in viel zu großen Hausschuhen. Sie greift gezielt nach einem schweren, ledernen Band. Freudig schlägt sie das Buch auf, liest und vergißt für zwei, drei Stunden die hektische Welt. Puschkin! Ihre Augen funkeln.

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