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Eine Belgierin auf Reisen

■ Die Schriftstellerin Lieve Joris läßt sich ganz ein auf ihre Geschichten, auf die Menschen, die darin vorkommen. Ihre Reisen dauern Jahre. Afrika aus der Sicht einer Frau

„Nur wer über seinen eigenen Horizont hinausblickt, kann die diffusen Ängste überwinden, die fremde Kulturen hervorrufen.“

Lieve Joris ist gebürtige Belgierin und lebt in Amsterdam, wenn sie nicht – wie meistens – auf Reisen ist. Ein Jahr hat sie in Syrien verbracht, um ein Buch zu schreiben. Über Hala, eine syrische Soziologin, die mit ihrer elfjährigen Tochter Asma in Damaskus lebt. Ahmed, ihr Mann, sitzt als Kommunist im Gefängnis. Joris wohnt die meiste Zeit bei Hala und muß mit der Eifersucht Asmas auskommen. Von dieser Zeit handelt ihr Buch, das sich wie ein Roman liest. Plastischer läßt sich ein Mensch, eine Gesellschaft kaum darstellen.

Im Zentrum der Erzählung steht die Frage, ob und wann Ahmed freigelassen wird. Hala fürchtet diesen Moment mehr, als sie ihn ersehnt. Sie liebt Ahmed nicht mehr, kann aber keine Klarheit über ihre Zukunft und die ihrer Tochter erlangen, solange er im Gefängnis sitzt. Das Buch endet, ohne daß er freikommt. Es ist eben doch kein Roman. Am Ende stehen weder Tod noch Freiheit.

Auch wenn Lieve Joris es selbst nicht so sieht, es ist eine extreme Art zu arbeiten. Sie kann und will nicht über Menschen schreiben, die sie nicht genau kennt. Wenn sie merkt, daß in einem Menschen eine Geschichte steckt, bleibt sie dran, bis er sie von selbst erzählt. „Die Leute wollen ihre Geschichte erzählen,“ sagt sie, „nur gibt es welche – und das sind die interessantesten –, die viel Zeit brauchen, sich zu öffnen.“ Bei Boubacar Traoré, einem Musiker aus Mali, verbrachte Joris 13 Monate, weil sie wußte, es lohnt sich. Ein nach außen hin äußerst unzugänglicher Mensch, der sich sicher war, sie würde ihn gar nicht verstehen wollen, würde seiner Welt, die durch Zauberei bestimmt ist, keinen Glauben schenken. „Wenn du meine Geschichte hörst, wirst du weinen“, sagte er. Erzählt hat er sie erst, als sie ihre instinktive Ablehnung der Existenz übernatürlicher böser Kräfte zurückgenommen hatte. Sie hat geweint.

Den Umgang mit anderen Kulturen hat Joris im Laufe ihres Lebens gelernt. Im flämischen Teil Belgiens, wo die Menschen sich klein fühlten, galten die benachbarten Holländer als überdimensional. „Diese riesigen Holländer mit ihren riesigen Fahrrädern.“ Überlebensgroß. Irgendwann fiel ihr auf, daß sie ganz normale Menschen sind. Das war der Anfang ihres Interesses an der Welt, an Menschen, die sich über gängige Klischees und Phobien hinwegsetzen und etwas erreichen wollen, die Interkulturalität als Chance sehen. Lieve Joris lebt für ihre Geschichten. Wie eine Schauspielerin, die völlig in ihrer Rolle aufgeht. „Nach einem Jahr bei Boubacar war ich so dünn, aber er hat mir seine Geschichte gegeben.“ Und als sie V. S. Naipaul, den Grandseigneur der literarischen Reportage, porträtierte, einen mehr als herablassenden Menschen, fiel sie „auf die Knie“, um von ihm akzeptiert zu werden. Nach ein paar Tagen war er es, der sie anrief, und nicht umgekehrt. Es bedarf eines großen Charakters, um sich klein machen zu können. Martin Hager

Lieve Joris: „Mali Blues. Ein afrikanisches Tagebuch“. Malik 1998, 313 Seiten 39,80 DM. Dies.: „Die Tore von Damaskus“. Malik 1998, 301 Seiten, 39,80 DM. Im Herbst 1999 erscheint „Die Sängerin von Sansibar“, eine Sammlung von Erzählungen, Reportagen und Porträts, u. a. von Nagib Mahfus und V. S. Naipaul.

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