: Menschenblut ist Handelsware
Das Verbrechen ist zu lohnend, um es den Verbrechern zu überlassen: John le Carré liefert in seinem neuen Roman „Single & Single“ eine ernüchternde Gesellschaftsdiagnose und eine kompakte Poetik des Kriminalromans auf der Höhe der Zeit ■ Von Thomas Wörtche
Am Anfang scheint die Zeit stillzustehen. Fünfzehn Seiten lang starrt der Anwalt Alfred Winser in den Lauf einer Pistole, als ob es eine Einstellung von Sergio Leone wäre. Tatsächlich handelt es sich aber um das erste Kapitel von John le Carrés neuem Roman „Single & Single“.
Aus dem anfänglichen Stillstand beschleunigt sich die Handlung dann zunehmend. Während Mr. Winser auf die Kugel wartet, die sich weder mit juristischen Argumentationen noch mit mentalem Hakenschlagen wird vermeiden lassen, hat le Carré gleichzeitig die perfekte Exposition für eine komplexe Geschichte geliefert und einmal mehr gezeigt, was für ein begnadeter Schriftsteller er ist.
An die gefrorene Zeit, die die Vergangenheit enthüllt, schließt sich die nächstliegende Gegenwart an – als Burleske in zwei Teilen: Nach dem „Aus“ für Winser schleudert uns ein harter Schnitt in die Welt von Zauberei, Taschenspiel und perfekter Illusion, bevor uns ein abermaliger Schnitt in die komischen Ränke eines türkischen Städtchens versetzt, wo man mit makabrer Phantasie und Chuzpe den Tod jenes Anwalt zu verschleiern sucht. Tod, Illusion, Ranküne und das Bewußtsein, daß all das auch seine grausam-komischen Aspekte hat – das sind die Leitmotive des Romans. Loyalität, Verrat und die Vater-Sohn-Beziehung, die le Carré seit „Ein blendender Spion“(1986) immer wieder beschäftigt, sind die – auch autobiographisch motivierten – Spannungsfelder.
Der realpolitische Unterboden, der diese eher abstrakten Themen trägt, ist ebenso evident wie einfach. Le Carré faßt ihn in einem knappen Absatz zusammen und diesen wiederum in einer Sentenz: „Das Verbrechen existiert nicht mehr vom Staat isoliert, falls es das je getan hat ... Die Einsätze sind heutzutage zu hoch, als daß man das Verbrechen den Verbrechern überlassen könnte.“
Diese kleine Kompaktpoetik des „Kriminalromans“ auf der Höhe der Zeit, der diesen Namen auch verdient, ist das „generierende“ Prinzip des Romans: „Single & Single“ ist ein kleines, diskretes Privatbankhaus in London, mit einem großen, verständnisvollen Herzen für die steuerlichen Bedürfnisse seiner Kundschaft und einem erklecklich flexiblen Verständnis von „Service“. „Single & Single“ finanziert alles, was Profit bringt. Akzent auf „alles“ und „Profit“.
Das Geschäft blüht so richtig auf, als noch vor dem Fall der Mauer vorausschauende Kreise in der sowjetischen Nomenklatura den Übergang zur (nur begrenzt sozialen) Marktwirtschaft einüben. Kaum ist der ordnungspolitische Faktor KPdSU tatsächlich weg, wird der Cash-flow rasant und die Produktpalette, um die sich „Single & Single“ rührend kümmert, bunt: Edelmetallschrott, Waffen, weißes Pulver und schließlich Menschenblut. „Menschenblut ist Handelsware“ – dieser Spruch des US-amerikanischen Handelsausschusses aus dem Jahr 1966 ist dem Roman ganz unparteiisch als Motto vorangestellt.
An dieser Stelle wird es dem Juniorpartner jedoch zu bedenklich. Oliver, Single junior, verpfeift Tiger, Single senior, ans britische Finanzministerium. Das kann zwar wegen der allgemeinen politischen Großwetterlage und dem Korruptionsquotienten bei Politik, Polizei und „Diensten“ kaum etwas unternehmen, aber immerhin geraten Sandkörnchen in die gut geölte Geldwaschmaschine von Single & Single. Oliver taucht ab und fristet ein lediglich vom schlechten Gewissen seinem Vater gegenüber geplagtes, ansonsten aber zufriedenes Dasein als Provinzzauberer. Aber wo es knirscht, tun sich Risse auf: Singles russische Partner, der Clan der Orlows nebst Satelliten und Trabanten, sitzt auch nicht mehr fest im Sattel. Alix Hoban, ein Nachwuchskader mit High-Tech-Fimmel, rüstet dort zur Übernahmeschlacht gegen alle; Single-Anwalt Winsers Tod ist dabei bloß ein kleiner Schachzug.
Nat Brock vom britischen Finanzministerium muß seine ganze erheblich machiavellistische Kompetenz aufbieten, um seinen Zögling und Spion Oliver, der inzwischen von seinem Vater bedroht, erpreßt und schießlich um Hilfe angegreint wird, aus dem Schlamassel herauszuholen. Dieser Schlamassel ist natürlich kompliziert, verworren, undurchschaubar, reicht bis in feinste, auch zwischenmenschliche Verästelungen und wird von le Carré, wie in allen seinen guten Büchern, nie groß erklärt. Man muß ihnen durch die intelligenten, mehrbödigen Dialoge folgen, man muß aufmerksam wahrnehmen, wie le Carré Körpersprachen, Interieurs, Situationen und Details beschreibt. Auf billige Gags und Knalleffekte braucht man nicht zu warten, sie kommen nicht. Dafür gibt es die großartigen Slow-burn-Effekte, die durchaus 100 Seiten brauchen können, bevor sie endlich zünden. Um den „kompetenten Kriminellen“ (so hat der von le Carré verehrte Eric Ambler den Typus „Geschäftsmann“ genannt, um den es auch hier geht) erzählen zu können, braucht le Carré den „kompetenten Leser“ als Komplizen. Wobei die Kompetenz dieses so gedachten Lesers beiderlei Geschlechts weniger in den metatextlichen Jonglierübungen der Literatur-Literatur bestehen sollte, sondern eher in einer gewissen Lebenstüchtigkeit der skeptischen Art. Nur so hat das Projekt Sinn, aus Realität Kunst zu machen.
Das ist le Carré nach dem „Schneider von Panama“ mit „Single & Single“ schon wieder hervorragend gelungen, obwohl (oder gerade weil?) sich diese beiden Romane strukturell deutlich unterscheiden. „Der Schneider von Panama“ hatte einen literarischen Subtext, „Single & Single“ hat keinen, höchstens einen autoreferentiellen – siehe „Ein blendender Spion“ und die autobiographische Vater-Sohn-Kiste. Mit dem 17. Roman (in 40 Jahren) konterkariert er somit die angebliche Semantik von „Spionageroman“ oder „Politthriller“, in deren Schublade man ihn gerne als „Unterhaltungsschriftsteller“ ablegen mochte.
Wie kaum ein anderer Autor (seiner Klasse) wurde le Carré mit dem „Kalten Krieg“ assoziiert; als ein Autor, der an seinem einen Thema seine diesbezügliche Methode des Erzählens entwickelt habe, die auf die veränderten Großparadigmen der Welt allerdings nicht mehr paßte. Von seinen letzten Büchern aus gesehen, kann davon nicht mehr die Rede sein. Es sieht vielmehr so aus, als habe das raffiniert verzahnte Arrangement aus genauer Realitätsschilderung und allgemein menschlichen Themen noch eine große Zukunft und enorme poetische Leuchtkraft. Es kann ja nicht darum gehen, das unschöne Politik- und Wirtschaftsleben abzuschildern, wie es ist, sondern deren Komponenten so zu arrangieren, daß sie „Faser und Textur“ unserer Welt sichtbar werden lassen.
Sichtbar werden sie, anscheinend paradox, bei le Carré auf dem Weg der Vieldeutigkeit, der Polyvalenz, der Andeutung und des Doubletalk. Mit einer eisigen Pointe, die auch Oliver Single am Ende des Romans fast schockhaft erfahren muß. Nachdem er sich durch Intrigen, durch Mauern des Schweigens, durch berechnende Gleichgültigkeit, durch Gewalt und Erpressung hindurchgewurstelt hat wie ein Gralsucher, muß er schließlich feststellen, daß es keinen Gral gibt: „Er war im letzten, verborgensten Zimmer seiner Suche angekommen, er hatte die allergeheimste Kiste aufgestemmt, und sie war leer. Tigers Geheimnis war, daß er kein Geheimnis hatte.“
Vorbereitend gespiegelt war diese fahle Erkenntnis in einem brillant maliziösen Kapitel, in dem ein Schweizer Anwalt Oliver durch die Blume klarmacht, daß er Tiger Single hat fallenlassen wie eine kalte Kartoffel. Fazit: Tiger und seine Helfer sind banale Gierlappen, basta. Nachdem dergestalt jede Transzendenz zerstäubt ist, stellt sich auch die Frage nach Loyalität und Verrat neu. Gibt es wenigstens noch eine Dimension, zum Beispiel zwischen Vätern und Söhnen, also zwischen Individuen, die mehr bedeutet, als die psychischen Dispositionen der Individuen es erlauben? In seinen „Spionageromanen“ hatte le Carré die Frage nach Loyalität im politischen Geschäft der Interessen mit grundsätzlicher Skepsis reflektiert. In seinen Vater-Sohn-Büchern rekurriert er auf die „atavistische“ Ebene. Aber auch dort findet er, wo irgend etwas Sinnhaftes sein sollte, in der „allergeheimsten“ Kiste eben, dasselbe Nichts. Insofern ist das erste Kapitel nicht nur eine dramaturgisch hervorragende Exposition, sondern das ganze Buch in nuce. Alfred Winsers banges Suchen nach einem Grund für seinen bevorstehenden Tod oder die Hoffnung auf Erlösung erlischt ebenso jäh und endgültig wie Olivers Sinnsuche im Getriebe von Tod, Illusion und Ranküne. Der Politthriller ist nicht die einzige literarische Form, die solche Aspekte der Zeit künstlerisch bearbeiten kann, aber ganz sicher eine dafür optimal geeignete.
John le Carré: „Single & Single“. Roman. Deutsch von Werner Schmitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 415 Seiten, 45 DM
Um den „kompetenten Kriminellen“ zu erzählen, braucht le Carré den „kompetenten Leser“
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