: Als plötzlich die Erleuchtung kam
Während mit der „humanitären Katastrophe“ die Nato-Angriffe gerechtfertigt wurden, gab es bis Kriegsausbruch verharmlosende Berichte des Auswärtigen Amtes. Wie es dazu kommen konnte, will Fischers Ministerium bis heute nicht erklären ■ Von Georg Gruber
Kleinlaut gestand der bündnisgrüne Außenminister Joschka Fischer auf dem Sonderparteitag der Grünen in Bielefeld einen peinlichen Fehler ein. Ja, die Lageberichte seines Ministeriums zum Kosovo seien falsch gewesen. „Das war ein Fehler, das muß ich akzeptieren“, sagte er. Wie das Außenministerium die Situation beschrieben habe, entspräche „nicht der empirischen Wahrheit“, hatte auch sein grüner Staatsminister Ludger Volmer eingeräumt.
Denn während die deutsche Bundesregierung den Nato-Angriff auf Jugoslawien mit der sich anbahnenden „humanitären Katastrophe“ im Kosovo begründete, galt im Hause Fischer noch immer der Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. November 1998.
Darin heißt es, die Wahrscheinlichkeit staatlicher Verfolgung im Kosovo sei gering und es gebe innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten (vgl. Kasten). Diese Einschätzung, die Grundlage für Entscheidungen über Asylanträge ist, galt noch bis zum 30. April 1999. Es habe sich um die Fortschreibung eines Lageberichts gehandelt, der „aus innenpolitischen Gründen von der alten Regierung verfaßt worden“ sei, rechtfertigt Volmer.
Doch welche Konsequenzen zog die rot-grüne Bundesregierung aus dieser Art von verharmlosender Darstellung des Außenministeriums, die zu Kohl-Zeiten üblich und insbesondere von den Grünen vormals stets heftig kritisiert wurde? Martin Erdmann, der Sprecher des Auswärtigen Amtes, verweist auf eine Stellungnahme von Ende April. Damals hatte Erdmann, der auch schon unter Fischers Vorgänger Klaus Kinkel (FDP) den Sprecherposten innehatte, Kritik an den Lageberichten zurückgewiesen: Die Berichte würden „nach bestem Wissen und Gewissen erstellt“ und die asylrelevante Lage im jeweiligen Land zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wiedergeben. Sie seien „frei von politischer Einflußnahme“.
Auf die Nachfrage, wie sich der Widerspruch zu Volmers Aussagen erklärte und wofür sich Fischer dann entschuldige, heißt es aus dem Auswärtigen Amt lediglich, daß der Stellungnahme „nichts hinzuzufügen“ sei.
Schon seit langem steht das Auswärtige Amt wegen seiner Lageberichte in der Kritik: Das Ministerium verharmlose das Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen in vielen Staaten, kritisieren Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen. Beispielsweise heißt es auch in Bezug auf die Türkei stets, verfolgt würden nur kurdische PKK-Aktivisten. Zudem gebe es „innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten“; Abschiebungen von kurdischen Asylbewerbern steht somit nichts im Wege.
Die Folgen dieser seit Jahren umstrittenen Einschätzungen, klagen Organisationen wie Pro Asyl, müßten die Flüchtlinge aus diesen Ländern tragen, da die deutschen Gerichte sich direkt auf das Auswärtige Amt beziehen. Die „Lageberichte des Auswärtigen Amtes (...) lassen einen Rückschluß auf eine Gruppenverfolgung ethnischer Albaner aus dem Kosovo nicht zu“, schreibt beispielsweise das Bayerische Verwaltungsgericht am 29. Oktober in einem Ablehnungsbescheid.
Das Ministerium habe die Situation im Kosovo verharmlost und Schönfärberei betrieben, werfen deshalb amnesty international und Pro Asyl auch der neuen Regierung vor. Seit Jahren habe man vor der humanitären Katastrophe im Kosovo gewarnt, sagt Heiko Kauffmann, der Sprecher von Pro Asyl. Sogar Grüne selbst, zum Beispiel Jamal Karsli, der flüchtlingspolitische Sprecher im nordrhein-westfälischen Landtag, warnte lange vor der militärischen Offensive der jugoslawischen Armee, vor den schlimmen Folgen der „Apartheid“ im Kosovo.
„Aus den unzähligen Berichten über Verfolgungen, Schikanen und Menschenrechtsverletzungen hätte man andere Schlußfolgerungen ziehen müssen, als dies das Auswärtige Amt getan hat“, sagt deshalb Heiko Kaufmann.
Die Diskussion um die Lageberichte hat nun auch ein Nachspiel im Parlament. Die PDS hat im Bundestag eine „Kleine Anfrage“ an die Bundesregierung eingereicht, deren Beantwortung in dieser Woche ansteht. Die PDS zeichnet darin die Absurdität des Vorfalls nach. Denn entweder hätten Fischer und Volmer „wissentlich Gerichten falsche Grundlagen für die Asylverfahren“ geliefert. Oder die Lageeinschätzung sei korrekt. Dann aber ließe sich mit der „humanitären Katastrophe“ nicht der Nato-Luftangriff rechtfertigen.
Seit dem Beginn der Bombardierungen am 24. März gehört es zum Standard-Vokabular des Außenministers, von „ethnischen Säuberungen“ und einer Politik der „gezielten Vertreibung“ zu sprechen, und daß Präsident Slobodan Miloevic diese Politik schon vor den Bombardements verfolgt habe.
In einer Pressemitteilung vom 31. März diesen Jahres spricht das Auswärtige Amt davon, daß es Miloevic schon seit 1990 darum gehe, ein „Apartheid-System“ im Kosovo zu etablieren. Seit März 1998 werde „von den Sicherheitskräften eine gezielte Vertreibungsstrategie“ betrieben. Spätestens seit Ende Juli 1998 könne daran kein Zweifel mehr bestehen. In die Lageberichte und die Amtlichen Auskünfte des Auswärtigen Amtes haben diese entscheidenden Erkenntnisse über die ethnische Verfolgung der Kosovo-Albaner, die Fischer und auch Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) zu Vergleichen mit Nazi-Deutschland veranlaßten, jedoch keinen Eingang gefunden.
Von einer gezielten staatlichen Verfolgung habe das Außenministerium vor der Bombardierung nie gesprochen, kritisiert auch Wolfgang Grenz von amnesty international. Die Pressemitteilung vom 31. März und die vorhergehenden Auskünfte des Auswärtigen Amtes seien „verschiedene Wahrheiten“.
Nach Auskunft des Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten, Klaus Blumentritt, hat im letzten Jahr kein Obergericht eine Gruppenverfolgung von Kosovo-Albanern anerkannt. Obwohl das Auswärtige Amt Ende März auf die „Etablierung eines Apartheid-Systems“ hinweist? „In dieser Eindeutigkeit hat das Auswärtige Amt das bis dahin nicht gesagt.“
Die Anerkennungsquote für Asylsuchende aus Jugoslawien lag 1998 unter drei Prozent. Nach einer Statistik des Innenministeriums wurden im letzten Jahr 32.600 Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Kosovo abgelehnt.
Das Ministerium weist Kritik, die auch von Richtern und Juristen erhoben wird, zurück. Der Lagebericht vom November sei beeinflußt von der Beruhigung im Kosovo nach dem Holbrooke-Miloevic-Abkommen und der Stationierung der OSZE-Beobachter.
„Die Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes wurden aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt“, so das Fazit eines Papiers aus dem Hause Fischer von Ende April zu Vorwürfen der Internationalen Juristenvereinigung gegen atomare Waffen (IALANA).
Klaus Thommes, Sprecher des Bundesfachausschusses der Richter und Staatsanwälte in der ÖTV, fordert eine Überprüfung der Asylentscheidungen. Hätte das Auswärtige Amt vor den Nato-Bomben so vehement auf eine staatliche Verfolgung hingewiesen wie danach, hätten weit mehr Kosovo-Albaner in Deutschland Asyl erhalten müssen, so Thommes.
Seit Beginn der Bombardierungen ruhen alle Verfahren. Die Lage sei zu unübersichtlich, heißt es. „Daß das Außenministerium die Situation vorsätzlich falsch wiedergegeben hat, wird sich kaum nachweisen lassen“, so Wolfgang Grenz von ai. Sein Rat: Abgewiesene Asylbewerber sollten Folgeanträge stellen; die Anträge also aufgrund der veränderten Lage noch einmal prüfen lassen.
Zur Rettung der Glaubwürdigkeit weist das Auswärtige Amt darauf hin, daß seit September 1998 keine Rückführungen in die Bundesrepublik Jugoslawien stattgefunden hätten, „wozu die in den Lageberichten enthaltenen Angaben und Einschätzungen maßgeblich beigetragen haben“. Doch tatsächlich gibt es nicht einmal einen formellen Abschiebestopp, bestätigt das Bundesinnenministerium. Abgeschoben wird seit September vergangenen Jahres nur deshalb nicht, weil die EU wegen der Vertreibungspolitik von Miloevic die jugoslawische Fluglinie JAT mit einem Boykott belegte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen