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: Klatsche mit Katsche

■ Wie plump die deutschen Kicker bei der WM 1974 politisch ausgenutzt wurden

„Am 22. Juni 1974, um 21 Uhr 03, fiel ein Schuß, der die Bundesrepublik Deutschland erschütterte. Nicht etwa aus einer RAF-Waffe oder an der innerdeutschen Grenze, sondern im Hamburger Volksparkstadion: Jürgen Sparwassers 1:0.“ Es war der Siegtreffer im vielleicht kuriosesten Match, das, vor genau 25 Jahren, je auf deutschem Boden stattfand: WM-Spiel Deutschland gegen Deutschland. Hüben gegen drüben. Laut Untertitel: BRD (wie man damals als Verlag noch nicht hätte schreiben dürfen) gegen DDR. Mit westdeutschen Fans, die die eigenen Kicker immer so schön blöd mit „Deutschland, Deutschland“ anfeuerten.

Sportlich ist der sensationelle DDR-Triumph längst interpretiert und auch in die bleierne Historie hinreichend hineinanalysiert worden. Jetzt kommen in einem erfrischend leichtlesigen Buch die Details zu „90 Minuten Klassenkampf“ aus deutschem Absurdistan: Neben dem minutiösen Spielfilm zum Showdown um 21 Uhr 03 groteske Dokumente aus Stasi-Akten und ZK-Sitzungen, Mielkes staatsrettende „Aktion Leder“, das flankierende Wirken der IMs. Und der wichtigtuerischen westdeutschen OMs aus Politik und Gesellschaft. Wir bestaunen Interviews mit beiddeutschen Zeitzeugen (auch Sparwasser mit überraschender Erkenntnis: „Das Tor hat mir geschadet“). Wir lachen, wie lärmend-peinlich sich DDR-Funktionäre beharkten, wie der „Infektionsgefahr“ der eigenen Fans trotz 100prozentiger Parteizugehörigkeit durch minutiös überwachten Zeitplan beim Klassenfeind entgegengewirkt wurde.

Schreiend komisch sind heute die Dokumente vom Originalton der TV-Kommentatoren – wie Heinz-Florian Oertel kontrolliert außer sich geriet (“Ein großartiges Spiel all unserer Männer“) und wie im Westmikrophon erst Dumpfbacke Werner Schneider anmoderierend herumpolitisierte und dann Verschwörungstheoretiker Heribärtchen Faßblender über die Niederlage grübelte: „War das Taktik? War das Absicht?“

Ein schön politisch wie auch witziges Buch mit Kuriosa ohne Ende: Dazu gehört die ran-artige Statistikauswertung des Spiels (die bei einer historischen Begegnung besonders absurd wirkt). Oder Paul Breitners blankes Bekenntnis im Interview: „Wir hatten einfach kein Gespür dafür, mit Leuten aus der DDR umzugehen. Bemitleiden? 10 Kilo Bananen schenken?“ Oder die mysteriöse Erkenntnis, daß Jürgen Sparwasser drei seiner zehn Länderspieltore in der 78. Minute erzielte. Allein die siegbringende Ernährung am D-Day bleibt im Dunkeln: „13 Uhr. Mittagessen im DFB-Quartier: Filetsteak. Im DDR-Quartier: Speisenfolge unbekannt. 16 Uhr 45: Im DDR-Quartier wird Kaffee getrunken. Die Marke läßt sich leider nicht mehr ermitteln.“ Aber nach dem Sieg gab's belegterweise Rotkäppchen-Sekt. Von Bananen ist nichts bekannt.

Kein „Weißt du noch?“-Werk, sondern eines der Marke: Jetzt weißt du vieles erst richtig. Entlarvend vor allem, wie das Spiel von allen deutschen Seiten instrumentalisiert wurde, obwohl die Kicker, bei allem Wissen um die politische Überhöhung des Balltritts, ganz nach Kickerart eigentlich nur kicken wollten.

Kritik hat das doppeldeutsche Geschichtsbuch nur für „Karl-Heinz Schwarzenbeck“ verdient. Also, der gute Katsche heißt – und das wissen außer Autor und Lektor alle – Georg und war übrigens um 20 Uhr 53, also lange zehn Minuten vor dem bilateral erschütternden Tor, gegen den bremischen Stahlfuß Horst-Dieter Höttges ausgewechselt worden. Dessen zeitgenössisch zergrätschtes Gesicht auf tief symbolisch eingeknicktem Gebein im Moment von Sparwassers Torschuß (Faßbenders Adleraugen sahen übrigens Cullmann neben Sparwasser) ziert auch das Coverfoto.

Ob die Klatsche mit Katsche ausgeblieben wäre? Wäre schade: Ein schönes Buch würde uns fehlen. Und Figuren wie Egidius Mayer-Vorfelder oder irgendein anderer aus der Gattung weltfremder Fußballfunktionäre dürften bei Strafandrohung von Auslachen nicht unter lebenslänglich noch weniger davon faseln, daß der wunderbare Fußball und die böse Politik nichts miteinander zu tun hätten. Bernd Müllender

Thomas Blees: „90 Minuten Klassenkampf. Das Länderspiel BRD-DDR 1974“. Frankfurt 1999(Fischer-Taschenbuch), 156 S., 16,90 DM