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„Funktionäre sind Funktionäre“

Ohne die Intifada der palästinensischen Jugendlichen hätte es keinen Friedensprozeß gegeben. Doch von der in Oslo ausgehandelten Autonomie haben die einstigen Aktivisten nicht profitiert  ■ Aus dem Westjordanland Uwe Rada

„Wo ist al-Wakas?“ Mohannad blickt fragend in die Runde. Wie fast jeden Abend haben es sich die jungen Männer in weißen Plastiksesseln vor dem Büro von al-Wakas gemütlich gemacht. „Unterwegs“, antwortet einer, „wo denn sonst?“ Mohannad zieht die Stirn kraus. „Und wie lange noch?“ – „Kann dauern“. Mohannads Bruder Hammad steckt sich eine Zigarette an. „Al-Wakas ist beim Friedensprozeß, in Anata. Er muß einen Streit schlichten.“

Seit mehreren Jahren, erklärt Hammad, würden sich zwei Familien wegen der Bebauung eines Grundstücks bekämpfen. Ein Streit, der die Gerichte in der von Israel kontrollierten Zone des Westjordanlandes nicht interessiere, und das, so Hammad, obwohl eine Seite bereits mit einer automatischen Waffe auf das Haus der anderen geschossen habe. Dennoch ist sich Hammad sicher, daß al-Wakas den Streit schlichten wird. Schließlich ist der 34jährige nicht nur der „Ersatzvater“ für die ehemaligen Aktivisten der Intifada, die sich allabendlich vor dem Büro seines Kindergartens treffen. Er ist auch der heimliche Bürgermeister von Eisarija, Anata und Abu Dis, allesamt Vororte von Ost-Jerusalem und ehemaligen Hochburgen des Aufstands der palästinensischen Jugendlichen gegen die israelischen Besatzer.

Während sein Bruder heißen Pfefferminztee serviert, bringt Hammad das Gespräch auf die nächsten Wahlen. In Eisariya sollen demnächst Funktionärswahlen der Fatah, der Regierungspartei von Palästinenserpräsident Jassir Arafat stattfinden. „Eigentlich war das für mich kein Thema mehr“, sagt Hammad, „Funktionäre sind Funktionäre.“ Hammad erntet zustimmendes Gemurmel. Nachdem er aber erfahren habe, daß sich mehrere Kandidaten zur Wahl gestellt hätten, die in der Intifada durch Abwesenheit geglänzt haben, habe ihn ein Verdacht beschlichen. „Den neuen Kandidaten“, sagt Hammad und fingert eine neue Zigarette aus der Schachtel, „geht es vielleicht eher um persönliche Interessen als um den politischen Kampf um einen wirklich gerechten Frieden.“ Hammad seufzt. „Ich habe mich noch einmal breitschlagen lassen.“

In der Runde verübelt es im niemand. Persönliche Interessen verfolgt hier keiner. Die Intifada hat bei ihnen nicht nur Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung hinterlassen, sondern auch die einer politischen Moral. Und diese gilt es nun zu verteidigen – häufig gegen Vertreter aus den eigenen Reihen.

„Al-Wakas kommt nicht mehr.“ Hammad hat seinen Pfefferminztee ausgetrunken. Sein Aufstehen ist für die sechs jungen Männer Signal zum Aufbruch in Richtung Jugendclub. Der liegt weiter unten an der Hauptstraße von Eisarjia, die von Ost-Jerusalem nach Jericho führt. Für meisten Jugendlichen in dem 30.000 Einwohner zählenden Ort herrscht seit dem Ende der Intifada und dem Beginn der Friedensverhandlungen in Olso eine neue Art Ausgangssperre. Diejenigen, die nicht in Jerusalem geboren sind und bereits einmal in die Fänge der israelischen Besatzungsmacht geraten sind, dürfen das Jerusalemer Stadtgebiet nicht betreten.

Von den Einschränkungen lassen sich die Jugendlichen dennoch nicht beirren. Chaled hat an diesem Abend nur eines im Sinn. Er will das Tischtennisturnier im Jugendclub gewinnen. Seine Chancen stehen nicht schlecht. Sieben Jahre hat er im israelischen Militärgefängnis verbracht. Sein Gegner an diesem Abend bringt es nur auf fünf Jahre. „Zwei Jahre Trainingsrückstand“, bemerkt Chaled und schmettert den Pingpongball auf die gegnerische Plattenhälfte. Schließlich war Tischtennis, neben traditionellen arabischen Stikkereien, die einzige Ablenkung im Gefängnisalltag.

„Fast jeder hier hat im Knast gesessen“, sagt Chaled nachdem er seinen Gegner deutlich geschlagen hat, „drei Jahre, fünf Jahre oder mehr.“ – „Al-Wakas hat zehn Jahre gesessen“, ergänzt Mohannad. „Nun läuft er mit einem Bukkel durch die Gegend. Die Israelis haben ihm das Rückgrat gebrochen. Körperlich, meine ich.“

Hammad interessiert das Tischtennisturnier nicht mehr. Er inspiziert den Forschritt beim Innenausbau der anderen Räume im Jugendclub. „Es ist das modernste Gebäude in Eisarija“, sagt er stolz. Neben den Freizeiteinrichtungen werden auch Büros der Jugendorganisation der Fatah und ein Schulungszentrum einziehen. „Jugend und Bildung“, weiß Hammad, „sind derzeit die wichtigsten Aufgaben.“ Ali, der ihn beim Gang durchs Gebäude begleitet, pflichtet bei: „Eine neue Intifada wird es nicht geben, also müssen wir um den Frieden kämpfen.“ Wie viele andere hat auch er sich entschlossen, für den Frieden nicht bei der palästinensischen Polizei oder bei den Autonomiebehörden zu kämpfen, sondern an der Basis. „Alles andere“, sagt er, „wäre Verrat.“ Hammad nickt. Dann gähnt er. „Ich muß los“, sagt er, „ins Krankenhaus.“

Für den 29jährigen, der seine Jahre nach dem Schulabschluß nicht an der Universuität, sondern in einem Gefängnislager in der Wüste Negev zubrachte, bedeutet der Kampf gegen den Verrat meistens den Kampf gegen die eigene Müdigkeit. Weil er die Tage zumeist damit verbringt, Geld für al-Wakas Kindergarten zu sammeln oder die Öffnung eines Health-Clubs zu organisieren, hat er die Schichten im Krankenhaus, mit denen er sein Geld verdient, auf die Nacht verlegt. Für die Freundin, die Tanzkurse oder das Fernstudium an der Uni Bethlehem bleibt da kaum noch Zeit.

Im Gegensatz zu Eisarija wirkt Ramallah, in früheren Jahren ebenfalls eine Hochburg des palästinensischen Widerstands, wie ein Vorposten des Westens. Schikke Geschäfte, teure Restaurants und modisch gekleidete Pälästinenserinnen deuten aber nicht nur daraufhin, daß sich in Ramallah mittlerweile viele Exilpalästinenser, vor allem aus den USA, niedergelassen haben. Das gelassene Flair der auf mehreren Hügeln gebauten Stadt, in der sich die reichen palästinensischen Grundbesitzer schon in den 30er Jahren ihre Sommerresidenzen gebaut haben, ist auch ein Hinweis darauf, daß Ramallah die heimliche Hauptstadt Palästinas und Sitz zahlreicher Behörden, Ministerien und des palästinensischen Parlaments ist.

Hassan arbeitet im Büro der „Schule für junge politische Führer“, einer Institution der Jugendorganisation der Fatah. Der Fatah-Funktionär, der erst vor kurzem eine geräumige Wohnung bezogen hat, saß bis 1994 in Haft. Verurteilt war er zu lebenslänglich. Freigekommen ist er erst durch die Oslo-Vereinbarungen. Der Aufbau der politischen Infrastruktur hat ihm eine berufliche Perspektive geboten, eine Perspektive, die Hassan mit vielen palästinensischen Funktionären teilt, deren Existenz eng mit dem Aufbau der Autonomiebehörde, der Ministerien, der Polizei und des Geheimdienstes sowie des Parteiapparats der Fatah verbunden ist. Angesichts der Arbeitslosigkeit von fast 50 Prozent und der sinkenden wirtschaftlichen Produktivität infolge der israelischen Absperrungspolitik zwischen den in Oslo ausgehandelten Autonomiezonen bleibt vielen jungen Palästinensern nichts anderes übrig, als entweder in Israel zu arbeiten oder für die eigenen Behörden.

Für den selbstherrlichen und nicht selten korrupten Führungsstil von Jassir Arafat und seiner zumeist aus dem tunesischen Exil stammenden Führungselite sind Funkionäre wie Hassan keine Gefahr. Gleichwohl zeichnet sich der Riß zwischen den Verlierern und den wenigen Gewinnern des Oslo-Abkommens immer deutlicher ab. Während sich die Situation in den Flüchtlingslagern seit 1994 verschärft hat und viele Aktivisten der Intifada wegen Inhaftierung und fehlender Universitätsausbildung den Anschluß verloren haben, hat sich im Banken-, Geschäfts und politischen Zentrum des Westjordanlandes eine Mittelschicht herausgebildet, für die ein Ende des Friedensprozesses schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage kommt.

Auch Arafats Partei bleibt von diesem Riß in der Gesellschaft nicht verschont. Aschraf ist in Kalandija geboren, einem heute 12.000 Einwohner zählenden Flüchtlingslager in der Nähe von Ramallah. Bis vor kurzem war er Mitglied der Fatah. Nun ist der 25jährige Wirtschaftsstudent ausgetreten und hat sich an der Universität von Bir Zeit der Vereinigten Linken angeschlossen, einem Sammelbecken, in dem sich Anhänger von George Habaschs Volksfront (PFLP) ebenso tummeln wie verspengte Kommunisten oder westlich orientierte Linksradikale. Gemeinsam ist ihnen die Kritik an den Osloer Verträgen sowie das Beharren auf dem Recht der Palästinenser zum Widerstand – einschließlich des bewaffneten Kampfes. Für die meisten Palästinenser habe sich die Situation seit Abschluß des Oslo-Abkommens verschlechtert, sagt Aschraf. Das gelte vor allem für die Flüchtlingslager, in denen allein im Gaza-Streifen und im Westjordanland eine Million Menschen wohnen. Eine Lösung sei nicht in Sicht. Schließlich hätten Israelis und Arafat nicht umsonst die Frage der Flüchtlinge bei den Oslo-Verhandlungen ausgeklammert.

Aschraf setzt deshalb auf die Demonstration militärischer Stärke. Dazu gehört es, vermummt und mit Kalaschnikows bewaffnet, vor dem Lager aufzumarschieren. „Nicht nur die Lager in Gaza, die Hochburgen der Hamas“, sagt er, „sind ein Pulverfaß, sondern auch Lager wie Kaladija, in denen die Fatah die Mehrheit hat.“

Im sechsten Stock des Nobelhotels „City Inn“ in Ramallah steigt an diesem Abend ein Empfang. Eine Delegation der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und der Falken aus Bremen hat ihre Gastgeberfamilien zum Abendessen geladen. Auch Aschraf, dessen Familie eines der Delegationsmitglieder aufgenommen hat, ist gekommen, ebenso Hammad und Mohannad aus Eisarija und Hassan aus Ramallah. Eine Gemeinsamkeit wie in den Tagen der Intifada will sich aber nicht mehr herstellen. Stumm sitzt Aschraf mit seiner deutschen Freundin am Tisch und kehrt den Funktionären seiner Expartei den Rücken zu. Plötzlich kommt einer in den Saal und erzählt ewas von einer Demonstration. Ein palästinensischer Polizist, der in Ramallah einen Jugendlichen erschossen hatte, sei freigesprochen worden. Hammad, Mohannad und Aschraf werden unruhig. Wieder einmal sitzen sie zwischen den Stühlen.

Doch dann löst sich die Situation auf. Al-Wakas kommt. „Endlich!“, ruft Hammad. „Der Streit ist geschlichtet“, sagt al-Wakas und grinst diebisch. „Hab' ich doch gesagt“, ruft Mohannad freudig. „Man müßte al-Wakas zur UNO schicken oder nach Jugoslawien, und schon wären alle Konflikte gelöst.“ Die Jungs lachen und fordern die Kapelle auf, das Intifada-Lied zu spielen. Dieser Abend soll ihnen gehören.

Was sie nicht wissen ist, daß sie am nächsten Morgen der Alltag wieder einholen wird. Eigentlich wollte al-Wakas dann nach Kairo fliegen, zu einer jugendpolitischen Konferenz. Doch die israelischen Behörden verweigern ihm die Ausreise. Hassan und die Vertreter des palästinensischen Jugendministeriums dürfen fliegen.

Der Kindergarten von al-Wakas ist dringend auf Spenden angewiesen. Konto: Uwe Rada, 12 10 18 67 01, Stichwort 'Palästina', Berliner Sparkasse (Blz: 100 500 00)

„Al-Wakas läuft mit einem Buckel durch die Gegend. Die Israelis haben ihm das Rückgrat gebrochen – körperlich“

„Den neuen Kandidaten geht es vielleicht eher um persönliche Interessen als um einen wirklich gerechten Frieden“

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