Lebenslang für einen Abwesenden

Ein italienisches Militärgericht verurteilt den Altnazi Theodor Saevecke. Der sitzt in seiner Wohnung bei Osnabrück und darf nicht ausgeliefert werden  ■   Aus Turin Eggert Blum

Der ehemalige SS-Hauptsturmführer Theodor Saevecke ist gestern in Abwesenheit in Turin zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Ein Militärgericht sprach ihn schuldig, 1944 die Erschießung von 15 italienischen Widerstandskämpfern angeordnet zu haben.

Im Verkehrsgewühl wenig beachtet, erinnert heute ein Mahnmal am Rand des großen Loretoplatzes in Mailand an den Mord. 15 politische Gefangene, Kommunisten und Sozialisten, waren hier ohne Prozeß am Morgen des 10. August 1944 öffentlich erschossen worden; bis zum Nachmittag blieben die Leichen in der Sonne liegen. Die entsetzten Mailänder merkten sich den Ort: Hier gaben sie Ende April 1945 die Leiche des erschossenen Benito Mussolini den Mißhandlungen der Menge preis.

Im August 1944 herrschte Mussolini noch in Norditalien als Diktator von Hitlers Gnaden. Mächtigster Mann in Mailand war SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, Chef der deutschen Sicherheitspolizei. Aus seinem Gefängnis kamen die 15 Opfer auf dem Loretoplatz. Zeugenaussagen belasten Saevecke als Urheber des Massakers – obwohl 1944 italienische Uniformierte den Finger am Abzug hatten, kein schriftlicher Befehl für die Hinrichtung gefunden wurde und der Angeklagte jede Schuld zurückwies.

Laut Saevecke war die Erschießung, die er einem längst verstorbenen Wehrmachtsgeneral anlastet, eine nach Kriegsrecht erlaubte Repressalie, seien doch kurz zuvor bei einem Bombenanschlag der Stadtguerilla zwei deutsche Soldaten getötet worden. Tatsächlich hatte ein Sprengsatz einen Wehrmachts-Lkw beschädigt und neun italienische Zivilisten getötet; Hinweise auf getötete deutsche Soldaten fanden aber weder der italienische Historiker Luigi Borgomaneri, der die Mailänder Archive, noch der Freiburger Militärhistoriker Gerhard Schreiber, der das Bundesmilitärarchiv durchstöbert hat.

Saevecke steht nicht in personam vor Gericht. Die italienische Justiz läßt eine Verhandlung auch in Abwesenheit des Angeklagten zu, und das Grundgesetz schützt in Artikel 16 Deutsche vor Auslieferung. So hat sich der 88jährige ehemalige SS-Hauptsturmführer darauf beschränkt, von seinem Domizil bei Osnabrück aus das Turiner Militärgericht als „kommunistisch unterwandert“ zu schmähen und eine wirkungslose Schmerzensgeldklage an Staatsanwalt Rivello zu schicken.

Bemerkenswert ist die Karriere, die der „alte Kämpfer“ (SA-Mitglied seit 1928) und Kriminalkommissar nach 1945 machte: 1949 kaufte die CIA in Berlin den ehemaligen SS-Hauptsturmführer und Kommunistenhasser als Berater ein. 1952 wechselte Saevecke ins Bundeskriminalamt. Dort leitete er bald, innerhalb der „Sicherungsgruppe Bonn“, die Abteilung Hoch- und Landesverrat, wo gegen den „inneren Feind“ ermittelt wurde, sprich: Kommunisten.

Ende 1962 geriet Saevecke vorübergehend in die Schlagzeilen, weil er die Festnahmen in der Spiegel-Affäre leitete; 1971 wurde er als Regierungskriminalrat pensioniert.

In den sechziger Jahren verliefen zwei Ermittlungsverfahren gegen Saevecke im Sande: wegen seiner Tätigkeit in einer SS-Einsatzgruppe in Tunesien und seiner Mitwirkung an den Judendeportationen aus Italien. Wegen der Erschossenen auf dem Loretoplatz begann Innenminister Herrmann Höcherl ein Disziplinarverfahren gegen den BKA-Beamten, stellte es aber ohne nähere Begründung wieder ein. Obwohl in Italien aussagewillige Zeugen bereitstanden, die heute nicht mehr leben, und obwohl in Italien die ausführlichen Vernehmungsprotokolle eines Ermittlungsverfahrens aus dem Jahr 1946 lagen: Damals hatte die britische Militärpolizei das Kriegsverbrechen auf dem Loretoplatz untersucht und ihre Ergebnisse im folgenden Jahr der italienischen Justiz übergeben.

Seit zwei Wochen weiß die italienische Öffentlichkeit, warum in den 60er Jahren die italienische Justiz noch passiver blieb als die deutsche. Die Ermittlungsakten gegen Saevecke waren nämlich in einem Schrank vesteckt worden, der, mit den Türen zur Wand gedreht, im Keller der römischen Militärstaatsanwaltschaft stand. 1994 ließ ein Staatsanwalt eher zufällig das Möbelstück öffnen: ihm quollen die Akten von 695 Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen in Italien entgegen. Die wichtigsten, so auch das Saevecke-Verfahren, wurden daraufhin an mehrere Staatsanwaltschaften im Lande verteilt. Und eine interne Untersuchungskommission begann, die Geschichte der im Schrank versteckten Akten zu untersuchen – sie hat ihren Bericht jetzt fertiggestellt. Demnach wurde die ungesetzliche „Archivierung“ 1960 vom römischen Generalstaatsanwalt angeordnet. Er hatte Akten über solche Verfahren verschwinden lassen, bei denen die mutmaßlichen Täter bereits identifiziert und noch am Leben waren.

Hinweise auf den Grund dieser eigenmächtigen Amnestierung fand die Kommission in einem Schriftwechsel zwischen dem damaligen Außen- und dem Verteidigungsminister Italiens. Die waren sich einig, daß der Aufbau der Bundeswehr beim Nato-Partner Westdeutschland nicht durch Ermittlungsverfahren gegen Hunderte von früheren Wehrmachtsoffizieren gestört werden dürfe.

Jetzt, wo es beinahe zu spät ist, wird die italienische Justiz wieder aktiv. Nicht nur im Fall Theo Saevecke. Der Schrank im Keller hat auch das Ermittlungsverfahren gegen Friedrich Siegfried Engel freigegeben. Heute lebt der 90jährige in Hamburg. Damals war der SS-Obersturmbannführer Chef der Sicherheitspolizei in Genua – und soll als solcher, so die Anklage, die besonders grausame Erschießung von über 100 gefangenen Partisanen befohlen haben. Sein Prozeß beginnt demnächst in Turin. Aber auch wenn er verurteilt werden sollte, gilt für ihn dasselbe wie für Theo Saevecke: Das Grundgesetz schützt ihn vor Strafe. Es sei denn, deutsche Richter urteilen erneut.

Laut Saevecke war die Erschießung von 15 politischen Gefangenen eine nach Kriegsrecht erlaubte Repressalie